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Schlemmen bis zum Gehtnichtmehr

Philipp Jedicke
17. Dezember 2018

Wurde in der Weihnachtszeit schon immer herzhaft geschlemmt oder wurden die Festtage früher ganz anders begangen? Kulturethnologe Gunther Hirschfelder spricht im DW-Interview über eine verführerische Sünde: die Völlerei.

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Andrea Ferreol 1973 La Grande Bouffe
Bild: Imago/United Archives

Zur Adventszeit und an Weihnachten wird in Deutschland geschlemmt. Auf Weihnachtsmärkten, bei Weihnachtsfeiern und in den Familien biegen sich die Tische unter Leckereien wie Lebkuchen, Plätzchen oder dem Festtagsbraten. Gunther Hirschfelder von der Universität Regensburg beschäftigt sich als Kulturanthropologe unter anderem mit dem Ess- und Trinkverhalten der Deutschen. Im DW-Gespräch kommt Überraschendes zum Thema Völlerei an Weihnachten zutage. 

DW: Herr Hirschfelder, war Völlerei immer schon etwas Negatives?

Gunther Hirschfelder: Wir Menschen litten jahrtausendelang darunter, dass wir als Spezies, als soziale Gruppe und als Individuum nicht genug zu essen hatten. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es immer wieder dramatische Kalorien-Unterversorgung, so dass Dicksein als grundsätzlich positiv angesehen wurde. Viel essen und gut essen war das Privileg der Reichen.

Aber es gab auch schon in der griechischen Antike Ansätze, Mäßigung als Tugend und Völlerei als etwas Schlechtes zu betrachten. Einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel gab es erst mit der Moralisierung der Ernährung durch die Reformation im frühen 16. Jahrhundert. Maßhalte-Apelle wurden zur kulturellen Norm.

Aber an Heiligabend wurde doch sicher schon immer ordentlich zugelangt.

Im Gegenteil. Das Weihnachtsessen war über Jahrhunderte hinweg gar keine herausgehobene Sache. Die vorweihnachtliche Fastenzeit, nur unterbrochen durch Sankt Nikolaus, war von der katholischen Kirche bis 1917 geboten und wurde auch noch darüber hinaus praktiziert. Die Grundidee des Fastens ist in der Forschung noch in den dreißiger und vierziger Jahren nachgewiesen worden. Bis dahin war der Advent eine Zeit der Vorbereitung auf Weihnachten, eine Zeit der Stille, der Besinnlichkeit und der spirituellen Einkehr.

Das Weihnachtsfest an sich spielt aber schon ab dem 19. Jahrhundert eine immer wichtigere Rolle. Eigentlich war Ostern im Kirchenjahr immer das herausgehobene Ereignis gewesen. Mit der literarischen Erhöhung bekam Weihnachten als Topos für deutsche Bürgerlichkeit und Familie eine Aufwertung - und es gab die ersten Festessen. Aber die Zeit der großen Völlerei beginnt eigentlich erst in den 1950er Jahren.

Wie drückte sich das aus?

Die 50er Jahre werden ja gelegentlich als "Fresswelle" bezeichnet, und diese Fresswelle ist statistisch nachweisbar. Man sieht, wie der Konsum von Zucker, Fleisch und Alkohol stark ansteigt. Vorher herrschten einfach ökonomische Notzeiten, die das nicht ermöglichten. Mitte des Jahrhunderts kommen dann auch vermehrt Weihnachts- und Adventsprodukte auf den Markt und werden nachgefragt. Der Konsum nimmt drastisch zu, weil Deutschland jetzt von einer reinen Versorgungsgesellschaft zu einer Konsumgesellschaft wird. Der Advent entwickelt sich allmählich von einer Zeit herausgehobenen Fastens zu einer Zeit herausgehobenen Essens. Es gibt eine steigende Nachfrage nach Dingen, die vorher schwer erhältlich waren - nämlich Weißmehl und Zucker. Diese haben eine hohe Wertigkeit, genau wie Fleisch und Alkohol.

Weihnachtstafel mit Weihnachtsgans und Kuchen
Der große Festschmaus an Heiligabend hat sich erst ab den 1950er Jahren flächendeckend verbreitetBild: picture alliance / Food and Drink Photos

Adventskalender mit Schokolade gab es zwar schon Anfang des 20. Jahrhunderts zu kaufen, aber die Wirtschaftskrisen und die beiden Weltkriege machen diesen Luxus unmöglich. Nach dem Krieg sieht es dann ganz anders aus. Davor wurde nur an den Adventssonntagen und dem Weihnachtsfest selbst gefeiert. In den 50ern und 60ern spannt sich die Festzeit schon über die gesamte Adventszeit plus Heiligabend plus den ersten und zweiten Weihnachtsfeiertag. Und heute sind all die Weihnachts- und Adventsprodukte flächendeckend ab dem Spätsommer im Angebot.

Woher kommt diese Zunahme an Feier- und Völlerwut?

Wir haben eine permanent überregulierte Gesellschaft mit Ess- und Ernährungsimperativen, was physiologisch sicherlich ganz gut ist, aber was viele Menschen in ihrer emotionalen und kulturellen Bedürftigkeit auch nicht abholt. Deshalb suchen sich Gesellschaften immer wieder Anlässe aus, um aus diesen Regulierungsmechaniken auszubrechen. Die Adventszeit, die Weihnachtszeit und die Weihnachtsmärkte werden zu Gelegenheiten herausgehobenen Essens gemacht. Und der psychologische Effekt bei vielen Leuten ist: "Eigentlich ernähre ich mich ganz gesund, aber jetzt ist ja Adventszeit." Es werden kleine Ausnahmen geschaffen, die eine Ventilfunktion haben.

Und je kleiner die Rollen von Religion oder Kirche in der Gesellschaft werden, desto wichtiger wird das Essen. Traditionell war der Heilige Abend sozusagen der Abschluss der Fastenzeit. Es gibt eine Reihe von Traditionsgerichten wie etwa Heringssalat oder Kartoffelsalat und so weiter, die dann vielleicht durch ein Wiener Würstchen ein bisschen aufgewertet werden, aber es ist erst einmal eine schmale Mahlzeit.

Kartoffelsalat und Würstchen waren damals das Weihnachtsessen?

Ein Heiligabendessen, weil es den Abschluss der Fastenzeit und damit der Fastenspeisen bildet. Und erst mit dem Übergang in die Nacht spielt dann der Feiercharakter eine Rolle, weil es dann eben die Heilige Nacht ist, in der das Kind geboren wird. Und morgens liegt es in der Krippe. Das ist dann der große Feieranlass.

Diese Zusammenhänge waren vielen Menschen über weite Strecken des 20. Jahrhunderts bekannt. Mit der Entsakralisierung hat sich das Ganze verkehrt: Aus der Fastenspeise wird ein Festmahl, der Heringssalat oder Kartoffelsalat mit Hering wird zur Luxus-Fischplatte. Je mehr wir den spirituell-liturgischen Charakter aus dem Auge verlieren, desto stärker feiern wir an Heiligabend nicht die Geburt des Herrn, sondern uns selber. Wir sind auf dem Weg von einem christlichen Fest zu einem Jahreszeitfest. Und es gibt natürlich eine Hauptfunktion: Heiligabend ist der verbindlichste Sozialtermin des Jahres geworden.

So wie Thanksgiving in den USA?

Eigentlich noch stärker, weil wir eine größere Rahmung haben: soziale Events in Betrieben, im Freundeskreis und im Verein. Das "Weihnachten feiern vor Weihnachten" spielt eine wichtige Rolle. Und das markanteste Familienfest, der kleinste gemeinsame soziale Nenner für viele, ist dann eben doch Weihnachten.

Ist diese ganze Völlerei nicht eine gigantische Kompensierungsmaßnahme?

Wir leben in einer Zeit von Veränderung und Unsicherheit. Als Gesellschaft haben wir Angst vor der Zukunft und vor der Gegenwart. Wir sind gefühlt im Krisenmodus, sind aber nicht in der Lage, so viel Krise dauerhaft zu ertragen. Wenn man früher sagen konnte: "Es gibt eine frohe Botschaft, Gott hat uns seinen Sohn geschenkt", dann haben wir heute auch eine frohe Botschaft, nämlich: "Essen ist fertig." 

Man freut sich darauf, es gibt die Dinge, die sonst rar und teuer sind. Discounter werben mit Weihnachtsmotiven und bringen sich in Stellung: Alles nur das Beste und alles nur für dich, die Ware verpackt wie Geschenke. Und mit diesen Scheingeschenken beschenken wir uns eigentlich permanent selber.

Dazu kommt: Wir müssen in einer modernen Event- und Erlebnisgesellschaft alles zu etwas Besonderem machen, wir ertragen keinen Alltag mehr. Und da ist Weihnachten natürlich eine hervorragende Folie. Ich trinke dann beispielsweise kein Bier mehr aus dem Standardkasten, sondern ein Craft Beer oder ein regionales Bier oder ein Weihnachtsbier, ein Oktoberfestbier. Diese ganze unglaubliche Palette. Weihnachten lässt das Nichtertragen des Alltags sozusagen sinnbildlich werden, indem es permanent diese angeblichen Besonderheiten gibt.

Prof. Dr. Gunther Hirschfelder
Kulturanthropologe Gunther Hirschfelder beschäftigt sich mit der Esskultur in Deutschland und EuropaBild: privat

Und jedes Jahr muss Weihnachten noch besser und noch größer werden, dabei bleibt eine permanente Enttäuschung im Vergleich zu dem Gefühl, was man früher als Kind an Heiligabend hatte.

Das ist das Wesen der kapitalistischen Konsumgesellschaft. Ich habe einen permanenten Kaufimperativ. Das ist die Logik des Konsums, dass er letztlich nie befriedigt, außer ich kaufe noch mehr. Das ist ja genau der Unterschied zur Religion. Das kann man durchaus kontrovers diskutieren, aber eine religiöse Beschäftigung oder eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Dingen hat ein Sinnangebot, und Konsum hat kein Sinnangebot.

Es wird also immer mehr gevöllert, weil der Konsum immer mehr angeregt wird?

Ja, und das ist auch die Logik des Events. Ein Event benötigt ja im Unterschied zum Brauch eine permanente Steigerung. Sonst implodiert es, und wir werden natürlich auch bei Weihnachtsessen und beim Weihnachtsmarkt Implosion und Veränderung erleben. Der Weihnachtsmarkt ist ja schon insofern implodiert, als dass er durch ein Winter-Volksfest abgelöst worden ist. Diese Entwicklung habe ich 2014 in einem Aufsatz beschrieben, und sie ist inzwischen abgeschlossen: weg von Weihnachten, hin zur Jahreszeit. Man könnte sagen: Hitler hätte sich gefreut, weil er damals genau diesen Bogen spannen wollte.  

Das Gespräch führte Philipp Jedicke.