Casting-Shows
21. Januar 2012Es ist Sonntagmorgen, 10.00 Uhr, ein kalter und grauer Dezembertag. Vor dem Gebäude der Medienschmiede MMC im Kölner Vorort Hürth steht eine Menschentraube. Hunderte haben sich hier eingefunden, um beim großen Casting für die neue Show "The Winner is" dabei zu sein. Jugendliche und Erwachsene, vom Teenie bis zum Endvierziger, warten geduldig auf den Einlass. Manche stehen seit dem frühen Morgen hier und sind durchgefroren.
10.30 Uhr, ein Mann erscheint und erklärt den Ablauf. Nur grüppchenweise eintreten, Nummer bereithalten, anmelden, in die entsprechenden Bereiche einordnen, warten bis man aufgerufen wird. Warten - wer beim Casting mitmachen will, braucht starke Nerven und viel Geduld. Manche müssen drei, vier Stunden herumsitzen, bis sie dran kommen. Dann geht es in einen kleinen Raum, aus dem man meistens nach ziemlich kurzer Zeit wieder herauskommt. Entweder ist man gut und kommt in die nächste Runde. Oder der Traum von der Gesangskarriere platzt schon hier in der großen Halle der Produktionsfirma. Manche tun es mit einem Achselzucken ab und sind froh, dass sie so schnell in die fernsehfreie Zukunft entlassen werden. Andere sind enttäuscht, verlassen weinend die Halle.
Ein Format mit Quotengarantie
Der Unterschied zwischen einem gereiften, in seinem Leben fest verankerten Erwachsenen, der "just for fun" an einem solchen Casting teilnimmt und einem hoffnungsvollen Jugendlichen, der von der Popstar-Karriere träumt, ist gewaltig. Wie sehr, das zeigen uns jedes Jahr verschiedenste Fernsehsendungen - angefangen mit "Popstars" im Jahr 2000. Hier wurde eine Mädchenband zusammengecastet. Unter damals noch 4.500 Bewerberinnen wurden von einer Jury - ohne Zuschauervoting - fünf junge Damen ausgewählt, die schließlich als "No Angels" zu einer der berühmtesten und erfolgreichsten Mädchenbands Europas wurden.
Schnell erkannten die Fernsehmacher das Potenzial dieser Shows, fast zeitgleich zur zweiten Staffel von "Popstars" folgte "Deutschland sucht den Superstar" (DSDS) nach dem britischen Vorbild "Pop Idol". 2002 flimmerte das Spektakel zum ersten Mal über deutsche Bildschirme. Das war die Wiedergeburt des Dieter Bohlen. Der Hamburger Musikproduzent wurde zur Ikone des deutschen Casting-Fernsehens - und das mit Sprüchen wie: "Singst du eigentlich gerne? Dann lern es." Literweise Teenietränen sind ob solcher verbaler Ausfälle schon geflossen, sogar die Kommission für Jugendmedienschutz hat Prüfverfahren zu DSDS wegen "möglicher sozialethischer Desorientierung von Kindern und Jugendlichen“ eingeleitet. Doch das kümmert die Macher dieser Shows herzlich wenig. Unterstützt von der begleitenden Boulevardpresse wurden die Casting-Shows zum beliebtesten Fernsehformat.
Superstars mit geringer Halbwertzeit
Wer heute noch alle Gewinner von DSDS nennen kann, den muss man schon suchen; der größte Erfolg dieser Sendung war Mark Medlock, der bekennende homosexuelle Hesse, der durch sein Talent und seine verrückte Art schnell zum Publikumsliebling wurde. Dieter Bohlen, der mit allen Siegern der DSDS-Staffeln Platten produziert, konnte mit ihm seine Songs endlich richtig vermarkten - drei Millionen verkaufte Tonträger, elf mal Gold und vier mal Platin kann Medlock verbuchen.
Kürzlich hat die neunte Staffel begonnen - das Muster ist bewährt: Junge Menschen werden vorgeführt, am liebsten diejenigen, die mit absoluter Fehleinschätzung ihres gesanglichen Talents vor Dieter Bohlens Tribunal auftreten und Jury wie Zuschauer mit schrägen Tönen belustigen. Bohlen gehen auch in der neunten Staffel nicht die Sprüche aus - so hört man weiterhin von ihm Sätze wie: "Das klang wie ein offenes Raucherbein!" So böse und gnadenlos die Jury auch ist, so enthusiastisch kann sie auch tatsächliche Talente feiern. Aber nicht ohne billige Psycho-Tricks: "Das war nicht gut heute", heißt es da, und schon fließen bittere Tränen. Die Kamera fährt ganz nah ran, weidet sich an der Verzweiflung der Kandidatin, die weinend den Rückzug antritt - doch plötzlich: "Warte. Du warst heute nicht gut. Du warst fantastisch!"
Talentsuche nur noch im Fernsehen?
Das Spiel mit Ängsten und Hoffnungen der Kandidaten ist der Stoff, aus dem die meisten Casting-Shows gemacht sind. Hier muss niemand ein Drehbuch schreiben - dafür sorgen die Kandidaten, die schon im Vorfeld sorgfältig ausgewählt werden. Bohlen & Co. schauen sich natürlich nicht alle 35.000 Bewerber an, die sich zu den DSDS-Shows anmelden. In einer Reihe von Vor-Castings, werden die Leute ausgesucht, die für Quote sorgen: Talentfreie Trottel, Freaks und zwischendurch auch ein paar wirklich gute Leute.
Auf die richtig guten Leute setzt Stefan Raab, Produzent, Musiker und TV-Moderator. Er ist mittlerweile fest im deutschen Casting-Zirkus verwurzelt. Ende 2003 initiierte Raab die Castingshow "SSDSGPS" (Stefan sucht den Super-Grand-Prix-Star), eine Parodie auf DSDS. Doch tatsächlich ging es hier um wirkliches musikalisches Talent. Hier wurde niemand von der Jury beschimpft oder lächerlich gemacht, talentfreie Kandidaten wurden so gut wie gar nicht gezeigt. Mit diesem Wettbewerb wurde ein Kandidat für die deutsche Vorentscheidung zur Teilnahme am Eurovision Song Contest gesucht. Der Sieger war der Soulsänger Max Mutzke, der mit dem Nummer 1 Hit "Can't wait until tonight" schließlich beim ESC in Istanbul auf einen beachtlichen achten Platz kam.
Noch mehr Lenas?
Auch Lena Meyer-Landrut ist ein Produkt aus der Raab-Casting-Schmiede. Nachdem einige deutsche Acts beim ESC wieder peinlichst gescheitert waren, ging Raab noch einmal in die Offensive und suchte in der Casting Show "Unser Star für Oslo" die Stimme, die Deutschland beim ESC 2010 vertreten sollte. Die damals 18-jährige Lena wurde Publikumsliebling und erfolgreichstes deutsches Nachwuchstalent der letzten Jahre. Ihre erfrischende Art verzauberte auch das europäische Publikum - mit einem selten da gewesenen Vorsprung gewann sie den Eurovision Song Contest in Oslo.
Diesen Erfolg will man jetzt wiederholen: Im deutschen Fernsehen hat soeben die nächste Suche begonnen. "Unser Star für Baku" kommt mit bewährtem Konzept daher: Junge Talente, die nicht ganz chartskonform sind und dennoch ein großes Potenzial haben, bewerben sich um ihren Auftritt im Mai 2012 in Baku, der Hauptstadt von Aserbaidschan. Die Jury hat nur Kritiker-Funktion, die Zuschauer wählen ihren Favoriten per Telefon. Derbe Sprüche fallen kaum; wenn Jury-Präsident Thomas D. (deutscher Hip Hopper der Formation "Die fantastischen Vier") mal sagt: "Für diesen Song muss man Eier haben, die so groß sind, dass sie nicht in die Hose passen!" dann fällt das schon fast aus dem Rahmen.
El Dorado für Casting-Junkies
Fakt ist: Zurzeit kann man sich im deutschen Fernsehen fast täglich eine Talent-Show angucken. Mittwochs macht Bohlen seine Kandidaten bei DSDS fertig, donnerstags singen Nachwuchstalente vor Raab und Thomas D., freitags läuft "The Voice of Germany". Der Privatsender "VOX" hat gerade einen Aufruf zur Bewerbung für die nächste Staffel von "X-Factor" gestartet, und im Februar singt man bei "The Winner Is" um die Million.
Das Geschäft blüht, es gibt hohe Werbeeinnahmen durch die guten Einschaltquoten. Die Macher der Shows verdienen sich eine goldene Nase durch die Rechte, und Dieter Bohlen oder Stefan Raab sind selbstverständlich die Songschreiber, Musikproduzenten und ersten Verwerter "ihrer" gefundenen Talente. Manche Casting-Sieger machen tatsächlich Karriere. Andere verschwinden wieder in der Bedeutungslosigkeit. Oder im "Dschungelcamp" - bei fast jeder neuen Staffel dieser Reality-Soap über ein zweiwöchiges Promi-Camp im australischen Dschungel findet man einen gescheiterten Casting-Star. Bei der aktuellen Staffel macht Daniel Lopes mit; er hatte 2002 in der DSDS-Endrunde gestanden.
Autorin: Silke Wünsch
Redaktion: Matthias Klaus