Wer ist die Frau, die Salvini herausfordert?
28. Juni 2019"Ich habe beschlossen in den Hafen von Lampedusa einzufahren. Ich weiß was ich riskiere, aber die 42 Geretteten sind erschöpft. Ich bringe sie jetzt in Sicherheit." Die Worte von Carola Rackete (Artikelbild), die der deutsche Verein Sea-Watch am Mittwoch auf Twitter verbreitete, waren der vorläufige Höhepunkt eines Nervenkriegs, in dem Italiens rechtspopulistischer Innenminister und Lega-Chef Matteo Salvini sie unter anderem als "Schlaumeierin" und als Verbrecherin bezeichnete. Seitdem sorgt die 31-Jährige aus Niedersachsen für Schlagzeilen - auch über Deutschland hinaus.
Rackete ist nicht die erste deutsche Schiffskommandantin, die internationale Bekanntheit erlangt. Erst im Mai wurde Claus-Peter Reisch, der im Juli 2018 mit dem Schiff "Lifeline" mehr als 230 Flüchtlinge aus dem Mittelmeer gerettet hatte, auf Malta zu einer Geldstrafe von 10.000 Euro verurteilt. Die Bonnerin Pia Klemp, die mit der "Iuventa" und der "Sea-Watch 3" Tausenden Menschen das Leben gerettet hat, drohen in Italien bis zu 20 Jahre Haft.
Wie Reisch und Klemp muss nun auch Rackete mit strafrechtlicher Verfolgung rechnen. Weil sie trotz eines Verbots der Regierung in Rom die "Sea-Watch 3" in italienische Hoheitsgewässer gesteuert hat, nachdem das Schiff rund zwei Wochen im Mittelmeer trieb, drohen ihr nach einem neuen Gesetz bis zu 50.000 Euro Strafe sowie eine Anklage wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Zudem könnte das Schiff beschlagnahmt werden, wie Salvini am Montag auf Twitter drohte. Am Dienstagabend hatte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg einen Eilantrag der Besatzung, in Italien anlegen zu dürfen, abgewiesen. Laut Rackete war die Verzweiflung an Bord daraufhin groß. Einige der Migranten hätten erwogen, über Bord zu springen. Zwei wurden inzwischen als "medizinischer Notfall" an Land gebracht. Derzeit dümpelt die "Sea-Watch 3" in unmittelbarer Nähe des Hafens von Lampedusa.
"Ich spüre eine moralische Verpflichtung"
Wer ist die Frau, die sich auf einen riskanten David-gegen-Goliath-Kampf mit der italienischen Regierung eingelassen hat? Rackete, seit 2018 Kapitänin der "Sea-Watch 3", setzt sich seit vier Jahren für die Organisation ein. Zuvor arbeitete die Kommandantin, die eine Ausbildung als Nautische Offizierin und ein Masterstudium in "Conservation Management" an der Edge Hill University im englischen Ormskirk absolviert hat, für das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung und war für Greenpeace aktiv.
Das Bild, das die Medien von Rackete zeichnen, ist nicht das einer Person, die als persönliche Gegenspielerin von Salvini wahrgenommen werden möchte. "Sein Gegenspieler ist hier die ganze Zivilgesellschaft", zitiert die Deutsche Presse-Agentur die Kapitänin. Es gehe "um das Prinzip der Menschenrechte", so Rackete. Sie sei für die Geretteten verantwortlich "und die halten es nicht mehr aus. Ihr Leben kommt vor jedem politischen Spiel", sagte sie der italienischen Zeitung "La Repubblica".
Racketes Bedürfnis, Menschen in Not zu helfen, hängt nach ihren eigenen Worten auch mit ihrer vergleichsweise privilegierten Lebenssituation zusammen. "Ich habe eine weiße Hautfarbe, ich bin in ein reiches Land geboren worden, ich habe den richtigen Reisepass, ich durfte drei Universitäten besuchen und hatte mit 23 Jahren meinen Abschluss", sagte sie "La Repubblica". "Ich spüre eine moralische Verpflichtung, denjenigen Menschen zu helfen, die nicht meine Voraussetzungen hatten."
Heldin oder Kriminelle?
Für ihr Engagement wird Rackete gefeiert, aber auch angefeindet und kriminalisiert - nicht nur von Salvini. Italiens Agrarminister Gian Marco Centinaio beschuldigte sie, die Italiener wie "Dorftrottel" zu behandeln. Die Chefin der Rechtspartei Fratelli d'Italia, Giorgia Meloni, forderte, die "Sea-Watch 3" müsse "versenkt" werden. Für linksgerichtete Politiker in Italien ist Rackete dagegen eine "mutige Frau" und "Hoffnung auf eine menschliche Welt". Die Linken-Politikerin Katja Kipping schrieb auf Twitter, sie sei "voller Respekt" vor der Crew um Rackete. Der Flüchtlingsbeauftragte von Schleswig-Holstein und frühere Seenotretter Stefan Schmidt zeigte sich solidarisch. "Ich bewundere Frau Rackete, denn unter diesen Umständen die Nerven zu behalten und eine Stütze zu sein auch für die Flüchtlinge an Bord, ist alles andere als einfach", sagte er der Deutschen Presse-Agentur. TV-Moderator Jan Böhmermann kündigte an, Spenden für mögliche anfallende Rechtskosten zu sammeln.
Aller eigener Entschlossenheit, allem Zuspruch von Außen zum Trotz: Rackete spürt den Druck auf ihre Person deutlich. Zu ihrer Entscheidung habe sie sich "vor allem von der EU und dem italienischen Staat genötigt gefühlt. Wir haben wirklich viel versucht, wir wollten eine politische Lösung. Nichts war möglich", sagte sie in einem Interview mit "jetzt", dem jungen Onlinemagazin der Süddeutschen Zeitung. Die jetzige Situation sei "eine große Belastung". Wie alle anderen an Bord sei sie "völlig übermüdet. Alle Geretteten sind traumatisiert und ich kann schlecht einschätzen, wann die Situation außer Kontrolle gerät. Es ist unglaublich frustrierend, dass vom italienischen Staat nichts kommt."
Nun könnte aber doch noch etwas kommen. In einem Skype-Interview mit internationalen Journalisten in Rom sagte Rackete an diesem Freitag, sie sei "wirklich sehr besorgt, besonders was mögliche Selbstverletzungen betrifft". Sie habe gehört, dass politische Verhandlungen im Gange seien. Möglicherweise könne es in "einigen Stunden" eine Lösung geben.