Westbalkan-Gipfel vertagt Erweiterung
5. Oktober 2021Eigentlich sollte die Beitrittsperspektive für die Westbalkanländer im Mittelpunkt stehen, aber die Liste der sonstigen Themen bei diesem ersten Gipfeltreffen der EU-Regierungschefs nach der Sommerpause ist lang: Das Verhältnis zu China, die prekäre Lage in Afghanistan, das gestörte Verhältnis zu den USA wegen des Streits mit Frankreich um das AUKUS-Bündnis im Südpazifik und die stark gestiegenen Gaspreise werden besonders das Abendessen am Dienstag dominieren.
Beitrittsperspektive wird bestätigt
Nach wochenlangem Streit über die Formulierung gab es kurz vor dem Treffen in Ljubljana doch noch eine Einigung der EU-Regierungen auf eine allgemeine Bekräftigung des möglichen späteren Beitritts für die sechs Westbalkanländer. Allerdings ohne dabei das Datum 2030 zu nennen, das die slowenische Ratspräsidentschaft vorgeschlagen hatte. Der Zeitrahmen bleibt offen, und Fortschritte sollen weiter vom jeweiligen Fortschritt der Kandidatenländer abhängig gemacht werden. Es ist ein Minimalkonsens, ein Eklat wurde knapp vermieden.
Dabei sind EU-Diplomaten ratlos, wie sie etwa den von Bulgarien angezettelten Sprachenstreit schlichten könnten, der gegenwärtig die Verhandlungen mit Nordmazedonien blockiert. Und Albanien fühlt sich als Geisel dieses Streits, weil beide Länder nur im Doppelpack vorangehen sollen. Die EU-Kommissionspräsidentin bestätigte bei ihrer Blitztour in der vorigen Woche, beide Kandidaten hätten "alle Bedingungen" erfüllt und ihren Teil geleistet. Allerdings sitzt in Bulgarien derzeit eine Übergangsregierung an der Macht, die keine Entscheidungen treffen will. Jeder Fortschritt ist seit 2019 blockiert, als Tirana und Skopje die Zusage zur Aufnahme von Verhandlungen erhielten.
Ähnliches gilt auch für den Problemfall Kosovo: Die Region wird weiter von mehreren EU-Ländern nicht als unabhängiger Staat anerkannt, auch hier gibt es keine Bewegung. Zwar konnte die EU in der vorigen Woche den Streit um Nummernschilder zwischen Kosovo und Serbien schlichten, aber darüber hinaus stecken alle Bemühungen fest.
Weiter Vorbehalte in einigen EU-Ländern
Zu den Blockierern in Sachen Erweiterung gehört seit längerem Frankreich. Diplomaten in Paris bestätigen jetzt, dass der Fortschritt in den Verhandlungen zwar derzeit eingefroren sei, der Frost aber nicht für alle Zeiten gelten müsse. Die Regierung hat sich also auf den jüngsten Kompromiss eingelassen, um eine Grundsatzdebatte darüber zu verhindern, ob die EU ihrerseits überhaupt erweiterungswillig und integrationsfähig sei.
Das Thema ist durch den gefundenen Formelkompromiss einmal mehr aufgeschoben. Was nichts am Ärger bei den betroffenen Regierungschefs ändert, die seit Jahren durch die gebrochenen Versprechen die Glaubwürdigkeit Europas infrage gestellt sehen.
Auch die Niederlande gehören im Prinzip zu den Erweiterungsgegnern und die Übergangsregierung in Den Haag will derzeit nicht über eine Richtungsänderung entscheiden. Die Erweiterung sei aber nicht völlig gestoppt, heißt es von Diplomaten dort, sie bewege sich langsam voran. Man wäre gern schneller voran gekommen, aber die Reformschritte in den Ländern seien eben "was sie sind". Am Ende müsse die Erweiterung "erfolgreich sein".
Das bedeutet, sie muss den Bedenken der skeptischen Mitgliedsländer Rechnung tragen. Es ist kein Geheimnis, dass die Niederlande vor allem Angst vor der weiteren Ausbreitung organisierter Drogenkriminalität aus Albanien haben. Albanische Gangs haben sich zunehmend im Land festgesetzt und sollen von dort aus den Drogenhandel quer durch Europa kontrollieren.
Bedenken gibt es auch in Deutschland, wo man die Visaliberalisierung teilweise zurückdrehen will. Zu viele Bürger einiger Balkanländer würden aussichtslose Asylanträge stellen oder ihre Aufenthaltsberechtigungen endlos überziehen. Auch in Berlin ist die Begeisterung über die anstehenden Erweiterungsverhandlungen gedämpft, zumal Entscheidungen erst von der nächsten Bundesregierung getroffen werden sollen.
Kann Geld das Problem lösen?
Die EU-Spitzen wollen den fehlenden politischen Willen und Fortschritt mit Geld ausgleichen. Neun Milliarden Euro sollen an Zuschüssen in den nächsten Jahren an den Westbalkan geleistet, 30 Milliarden an Investitionen initiiert werden. Damit will man weitere dringende Infrastrukturprojekte voranbringen, Straßen und Schienen ausbauen, die Telekommunikation und das Gesundheitswesen modernisieren. Auch im Kampf gegen Corona und bei der Lieferung von Impfstoff will die EU sich engagieren.
In einer Studie der Bertelsmann Stiftung und des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw) bekommt die EU allerdings schlechte Noten für ihre bisherige Förderungspolitik. Die Autoren sprechen von "Zweckoptimismus" und erklären, das versprochene Wirtschaftspaket werde an der beklagenswerten ökonomischen Situation im Westbalkan wenig ändern, sondern "mehr vom Gleichen bringen", wie Co-Autor Richard Grieveson erklärt.
"Die bisherige Strategie der EU, durch regionale ökonomische Integration den wirtschaftlichen Aufholprozess der Westbalkanstaaten zu forcieren und politische Konflikte zu lösen, war nicht erfolgreich", meint auch Stefani Weiss, EU-Expertin der Bertelsmann Stiftung in Brüssel. Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien hinkten den ost- und südosteuropäischen EU-Mitgliedern ökonomisch weit hinterher.
Das wirtschaftliche Gefälle bleibt
Obwohl die regionale Integration zugenommen hat, habe sie sich auf die wirtschaftliche Entwicklung nicht sonderlich ausgewirkt, wird in der Studie festgestellt. "Das BIP der Region ist nach wie vor sehr niedrig - insgesamt etwa so hoch wie jenes der Slowakei", so Grieveson. Das führe zu einem großen ökonomischen Gefälle. "Die Kluft zu den neuen EU-Mitgliedern in Osteuropa hat sich vergrößert, was besorgniserregend ist, schließlich sollten arme Länder schneller wachsen als reiche." Von dem beschworenen Aufholprozess könne bisher also kaum die Rede sein, so die Osteuropaexperten aus Wien und Brüssel.
Um die wirtschaftliche Entwicklung der Westbalkanstaaten voranzutreiben, empfehlen die Autoren der Studie eine möglichst umfassende ökonomische Anbindung an die EU. "Gerade weil ein Vollbeitritt für die meisten aus politischen Gründen in immer weitere Ferne rückt, muss Brüssel ihnen eine Alternative bieten." Angesichts der geringen Wirtschaftsleistung der Westbalkanländer von nicht einmal einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts der EU fiele das für die Nettozahler der EU kaum ins Gewicht. Europa will den Westbalkan nicht chinesischen Investoren überlassen – nur dieses geostrategische Argument scheint derzeit den Beitrittsprozess noch marginal am Leben zu erhalten.