Westbalkan träumt von Lieferketten
7. Juni 2021Wie müssen sich Lieferketten verändern, um weniger anfällig gegen Störungen zu sein als während der Corona-Pandemie? Eine mögliche Antwort: Es ist vielleicht besser, wenn Zulieferer und Produktionsstätten nicht allzu weit von der Firmenzentrale entfernt sind.
Wenn Firmen ihre Investitionen zurückholen, wird das im Jargon der Branche "Reshoring" oder "Nearshoring" genannt. Für deutsche Firmen könnte es bedeuten: weniger Zulieferer in Asien, dafür mehr in Ost- und Südosteuropa. In dieser Region macht man sich gerade große Hoffnungen auf Investitionen aus Deutschland.
Zu sehen ist davon allerdings noch nichts - was angesichts der noch nicht beendeten Pandemie nicht überrascht. "Bis jetzt hatte die COVID-19 Pandemie kaum Auswirkungen auf Reshoring und Nearshoring in Zentral-, Ost- und Südosteuropa", schreibt Olga Pindyuk im Mai-Bericht des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW).
Im vergangenen Jahr seien die Direktinvestitionen aus dem Ausland in der Region um 45 Prozent eingebrochen. Die Aussicht auf eine Erholung in diesem Jahr sei "in den meisten Sektoren gering", mit Ausnahme von IT und Energie, so Pindyuk.
Während die Forscherin den Ist-Zustand und die nahe Zukunft beschreibt, hat ihr WIIW-Kollege Branimir Jovanovic das mittel- und langfristige Reshoring-Potenzial für die Länder des Westbalkan untersucht: Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Montenegro, Nordmazedonien und Serbien.
Jovanovic stützt sich dabei auf Umfragen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) und der deutschen Auslandshandelskammern sowie eigene Befragungen.
"Die Untersuchungen zeigen, dass deutsche Firmen darüber nachdenken, ihre Lieferketten zu verändern", so Jovanovic im DW-Gespräch. "Der Westbalkan gehört zu den Regionen, die dabei eine natürliche Wahl sind."
Chancen für Westbalkan-Länder
Die Löhne auf dem Westbalkan seien niedrig, die Region werde von deutschen Managern als "kulturell verwandt" eingeschätzt, und auch das Bildungsniveau sei nicht schlecht, so Jovanovic.
Fast die Hälfte aller deutschen Firmen mit Auslandsgeschäft hatte seit Beginn der Pandemie Probleme mit der Lieferkette oder der Logistik, so eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) unter 2400 Firmen. Zwei Drittel davon planen deshalb, ihre Lieferketten zu verändern (siehe Grafik oben).
Fraglich ist aber, ob die Pläne auch umgesetzt werden - und ob dabei etwas für die Westbalkan-Länder abfällt. Jovanovic hält das für wahrscheinlich, weil die Länder so klein sind.
"Es reicht schon, wenn sich ein paar deutsche Firmen dazu entscheiden", sagt der Ökonom. "Derzeit fließen nur rund ein Prozent aller deutschen Direktinvestitionen im Ausland in den Westbalkan. Jede Änderung hätte hier große Auswirkungen."
Dasselbe gelte für Firmen aus anderen Ländern, denn Deutschland ist in der Region nicht einmal der größte Investor.
Das große Aber
Die Aussicht auf mehr Investitionen aus dem Ausland ist laut Jovanovic allerdings an eine wichtige Bedingung geknüpft.
"Die Regierungen in der Region müssen Ihre Hausaufgaben machen, wenn sie von den positiven Trends profitieren wollen, die nach der Corona-Pandemie wahrscheinlich eintreten."
Vor allem bei der guten Regierungsführung schneiden die Balkanländer im europäischen Vergleich schlecht ab. Korruption und mangelnde Rechtssicherheit schrecken Investoren ab.
"Wenn die Regierungen jetzt nichts tun und einfach so weitermachen wie bisher, dann bleibt all das Potenzial ungenutzt", so der Ökonom.
Er kritisiert auch die bisherige Strategie der meisten Balkanstaaten, vor allem mit niedrigen Löhnen und Steuern zu werben. "Investoren geht es nicht nicht nur darum", so Jovanovic. "Sie wollen auch Qualität. Und dazu gehören gut ausgebildete Arbeitskräfte ebenso wie funktionierende Institutionen und Infrastruktur."
Gemeinsam handeln
Serbien habe hier einiges besser gemacht als die anderen Länder der Region, und daher auch Investitionen im produzierenden Gewerbe angezogen. Geld kommt sogar aus China.
Allerdings sollten die Westbalkan-Länder weniger auf Standort-Wettbewerb untereinander setzen und sich stattdessen als eine Region verstehen.
Derzeit entspricht die gemeinsame Wirtschaftsleistung der sechs Länder gerade einmal dem Bruttoinlandsprodukt der Slowakei. Gemeinsam wären sie stärker - und auch für Investoren interessanter, sagt Jovanovic.
"Gäbe es mehr Zusammenarbeit und eine Strategie für die gesamte Region, könnten sie bessere und größere Firmen anziehen, die dann nicht nur in einem Land aktiv wären, sondern grenzüberschreitend."
WIIW-Forscher Jovanovic, der selbst vom Westbalkan stammt, ist skeptisch, dass sich die Bedingungen in der Region wirklich verbessern. Aber er hofft, dass die Chancen, die sich durch eine mögliche Veränderung der Lieferketten ergeben, einen Wandel zumindest wahrscheinlicher machen.