Wie in Kiew langsam wieder Leben einkehrt
6. April 2022Seit Anfang April scheint sich Kiew merklich zu erholen. Viele Einwohner, die die ukrainische Hauptstadt mit Beginn der russischen Bombenangriffe Ende Februar verlassen hatten, kehren langsam in ihre Häuser zurück - auch wenn die Stadtverwaltung warnt, dass die militärische Bedrohung noch nicht gebannt sei. Dennoch gibt es wieder mehr Menschen in den Straßen. Geschäfte, Cafés, Restaurants und Friseure öffnen wieder. Und auch der Schulbetreib soll - wenn auch in anderer Form - wieder starten. Für 90 Prozent der Schulkinder soll es nach Angaben der Stadtverwaltung wieder Fernunterricht geben.
Anfang April hatte die ukrainische Regierung die Kontrolle über den Großraum Kiew gemeldet, nachdem die russischen Truppen sich von der Region zurückgezogen hatten. Nun werden stärkere Angriffe im Osten und Süden des Landes erwartet. Nach Abzug der russischen Armee bot sich jedoch auch ein Bild des Schreckens im Vorort Butscha, zahlreiche Leichen wurden auf den Straßen entdeckt.
"Ich wollte sofort zurückkehren"
Trotz allem: Laut einer Umfrage des Kiewer Rasumkow-Forschungszentrums wollen 79 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren. Schon jetzt kommen jeden Tag Hunderte Menschen nach Kiew zurück. Das erfuhr die DW von einer Freiwilligenorganisation, die sich mit der Evakuierung von Menschen aus Kiew befasst.
Einer von ihnen ist der 40-jährige Andrij, der am Dienstag am Kiewer Hauptbahnhof mit einem vollem Bus aus Riwne ankommt. Andrij erzählt, er sei über die westukrainische Stadt aus dem Nachbarland Polen zurückgekehrt. Er habe noch am ersten Tag der Bombardierungen seine Frau und zwei Kinder im Alter von vier und sechs Jahren in Sicherheit bringen wollen und sie zu einem polnischen Landwirt begleitet, für den er mal gearbeitet hatte. "Eigentlich wollte ich sofort zurückkehren und in den Krieg ziehen, aber ich musste noch bleiben und eine Weile für den Lebensunterhalt meiner Familie arbeiten", sagt der Mann.
Doch gerade an diesem Morgen erzittert Kiew erneut wegen der Explosionen im Nordwesten der ukrainischen Hauptstadt. Aber davon lassen sich die Rückkehrer nicht abschrecken. "Die Menschen lesen regelmäßig die Nachrichten und wissen, dass in Butscha und anderen Vororten Minenräumer am Werk sind. Nachdem sie gesehen haben, was die Russen dort angestellt haben, wollten sie sofort zurückzukehren. Unsere Kiewer Wohnung ist unversehrt geblieben, und für mich ist es jetzt Zeit, zu den Waffen zu greifen oder beim Wiederaufbau zu helfen", sagt Andrij. Auch seine Frau vermisse ihre Heimatstadt und wolle möglichst bald nach Hause zurückkehren, allen Schwierigkeiten zum Trotz.
Mehr öffentliche Verkehrsmittel und Märkte
Andrij freut sich, für seinen Heimweg kein Geld für ein Taxi ausgeben zu müssen. Denn am Dienstag wurden die zentralen Umsteigebahnhöfe der U-Bahn wieder vollständig in Betrieb genommen. Mit Kriegsbeginn dienten sie als Luftschutzbunker, Züge hielten dort nicht mehr. Nach Angaben der Stadt sind inzwischen 150 Busse und mehr als 30 Straßenbahnen wieder im Einsatz. Auch Taxis verkehren wieder zu den Tarifen der Vorkriegszeit.
In der vergangenen Woche hatte auch der Autoverkehr auf Kiews Straßen deutlich zugenommen und es gibt wieder die üblichen Staus. Doch jetzt bilden sie sich an den Kontrollpunkten und an Auffahrten zu den Brücken über den Fluss Dnipro. Dort werden die Papiere von Fahrern und Passagieren überprüft.
In den Kiewer Supermärkten begannen sich schon Ende März die zuvor leeren Regale wieder zu füllen. Einerseits ließen die Hamsterkäufe nach. Andererseits tauchten statt der meist ausländischen Produkte, die in den ersten Kriegstagen von humanitären Konvois angeliefert wurden, wieder die üblichen Waren ukrainischer Hersteller auf - von Süßwaren bis zu frischem Fleisch und Milchprodukten. Jeden Tag melden Behörden, in welchen Bezirken es kleine Bauern-Märkte gibt, wo man Kartoffeln, Gemüse für die traditionelle Borschtsch- Suppe und andere Lebensmittel kaufen kann.
Für die Bauern ist der Weg in die Stadt oft beschwerlich. "Man braucht zwei Stunden, um vom linken zum rechten Ufer zu gelangen, wegen den Staus auf den Brücken und den vielen Kontrollpunkten. Wir wollten gerade losgefahren, doch da gab es wieder Luftalarm und die Sirenen heulten. Da mussten wir erst einmal wieder umkehren", erzählt ein Bauer, der im Zentrum von Kiew einen mobilen Marktstand aufstellt.
In der vergangenen Woche, noch vor dem Rückzug der russischen Truppen aus der Region Kiew, nahm in der Hauptstadt der Luftalarm ab, auch waren weniger Schüsse durch Straßenkämpfe mit russischen Saboteuren zu hören. Nur die Bewohner einiger Außenbezirke hörten noch viele Schüsse - nicht wegen der Kämpfe, sondern weil die Kiewer Territorialverteidigung in den nahegelegenen Wäldern Übungen durchführte.
Warme Mahlzeiten und ein Café mit Garten
Auch viele Kleinunternehmer nehmen wieder ihre Arbeit auf. Seit Anfang April haben nach Angaben der Behörden über 760 Lebensmittelgeschäfte, 400 Restaurants und mehr als 440 Tankstellen geöffnet. In einem zentralen U-Bahnhof, der als Luftschutzbunker genutzt wird, wurde in einem ehemaligen thailändischen Restaurant eine Küche eingerichtet. Hier werden warme Speisen für Angehörige der Territorialverteidigung und Menschen zubereitet, die sich bei Luftalarm im Untergrund verstecken. "Unser Rekord liegt bei 510 Mahlzeiten am Tag! Wir kochen Borschtsch, Suppen und Brei. Die Zutaten bringen uns Bauern aus der Umgebung", sagt Köchin Kateryna.
Neben dieser Küche hat ein Café eröffnet. Managerin Oleksandra sagt, sie bekomme gerösteten Kaffee von Lieferanten, die sich mit Beginn der Kämpfe um Kiew in die Westukraine zurückgezogen hätten. "Wir haben täglich bis zu 50 Kunden, die sowohl unsere eigenen Kaffeerezepte als auch unseren gemütlichen Garten mögen, in dem man bei warmem Wetter mit einer Tasse Kaffee sitzen kann. Wir spüren, dass die Menschen nach und nach in die Hauptstadt zurückkehren, es kommen mehr Kunden. Aber auch die Konkurrenz nimmt zu, da ja jeden Tag weitere Cafés öffnen", erzählt Oleksandra.
Beschränkungen werden aufgehoben
In der Nähe eines der teuersten Supermärkte in Kiew ist der Parkplatz wieder mit Autos gefüllt, und im Restaurant daneben sind alle Tische besetzt. Wohlhabende Kiewer trinken dort auch wieder Spirituosen, nachdem der Verkauf von Alkoholika mit Verhängung des Kriegsrechts über das Land über einen Monat lang untersagt war. Auch in Supermärkten werden wieder alkoholische Getränke angeboten. Die gelben Absperrbänder an den Regalen sind inzwischen entfernt.
Die Einwohner Kiews freuen sich auch darüber, dass Friseure wieder geöffnet haben. Die Besitzerin eines Salons im Zentrum der Stadt sagt, freie Termin könne sie erst für Anfang Mai anbieten. "Wir haben jetzt nur noch einen weiteren Friseur im Dienst, und die Leute haben einen ganzen Monat lang keinen Haarschnitt bekommen. Ohne Termin kommen aber nur Soldaten und Männer dran, die sich zum Militärdienst melden. Sie können nicht warten", sagt Friseurin Olena.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk