1,5-Grad-Ziel: Wie schafft das Deutschland?
14. November 2020"Deutschland muss bis 2035 CO2-neutral werden. Sonst ist ein adäquater Beitrag Deutschlands für die Erreichung des 1,5-Grad-Celsius Ziels nicht zu schaffen", sagt Energie- und Klimaforscher Prof. Manfred Fischedick, Leiter des Wuppertal Instituts, der gemeinnützigen Denkfabrik für Nachhaltigkeit.
Das Institut untersuchte in der Studie zur Einhaltung der 1,5-Grad-Grenze, welche Maßnahmen im Verkehr, Gebäude, Industrie und Stromerzeugung machbar und sinnvoll in Deutschland sind. Das "ist aus technischer und ökonomischer Sicht extrem anspruchsvoll, aber grundsätzlich durchaus möglich", so Fischedick.
Was ist neu an der Studie?
Deutschland hat sich zwar Klimaziele gesetzt, doch diese reichen nach Berechnungen der Wissenschaftler nicht aus. Mit den bisher beschlossenen Ansätzen kann das in Paris beschlossene Ziel von 1,5 Grad nicht eingehalten werden, nicht einmal das Minimalziel von deutlich unter zwei Grad. "Deshalb hat Fridays for Future die Studie in Auftrag gegeben", so Sebastian Grieme von Fridays for Future bei der Präsentation.
Der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) hatte vor kurzem das verbleibenden CO2 Budget berechnet, also die Menge an Treibhausgasen, die Deutschland noch ausstoßen dürfte.
Das Wuppertal Institut schlägt einen sehr sparsamen Umgang mit diesem Budget vor, so bliebe insgesamt mehr Zeit für die Umstellung der Energieversorgung. Deutschland hätte dann bis 2035 Zeit, CO2-neutral zu werden.
1. Mobilität verändern
Für einen CO2-neutralen Verkehr müsste laut Studie der Autoverkehr im Vergleich zu heute halbiert werden, Autos fahren dann vor allem mit Batterie. Gleichzeitig ist eine Verdopplung der Kapazität für den öffentlichen Nahverkehr und den Ausbau von Rad- und Fußwegen nötig.
Auch LKW sollten künftig zum Teil mit Batterie fahren. 30 Prozent des bisherigen LKW-Transports kann künftig per Zug erfolgen werden. Auf den Autobahnen bräuchte man 8000 km Oberleitungen für elektrische Hybrid-LKW.
Für die CO2-Neutralität sollen Verkehrsflüge innerhalb von Deutschland ganz eingestellt werden, und der internationale Flugverkehr um 25 Prozent reduziert werden. Das wird möglich, wenn innereuropäische Flüge auf die Schiene verlagert und Onlinekonferenzen gefördert werden.
Der Kraftstoff für die verbleibenden Flugzeuge soll dann synthetisch aus Strom erzeugt werden. Ab 2026 sollten laut der Wissenschaftler dem Kerosin zunächst 10 Prozent synthetische Kraftstoffe beigemischt werden, bis 2035 würden sie dann Kerosin aus Erdöl komplett ersetzen.
Erreicht werden die Maßnahmen durch einen Preis für CO2, die Abschaffung von klimaschädlichen Subventionen, verschiedene Förderung und Verbote sowie ein Moratorium im Fernstraßenbau.
2. Gebäude dämmen und mit Wärmepumpen heizen
Bisher werden in Deutschland Gebäude meist mit Gas und Öl geheizt. Um Energie zu sparen, brauchen vor allem alte Häuser eine bessere Dämmung an den Außenwänden, bessere Fenster und moderne Lüftungstechnik. Mit diesen Maßnahmen lässt sich bis zu 90 Prozent Energie und damit CO2 sparen.
Zudem sollten laut Studie Öl- und Gasheizung in den nächsten Jahren aus den Gebäuden verbannt und vor allem durch Wärmpumpen ersetzt werden. Sie heizen mit Umweltwärme und können mit Ökostrom klimaneutral betrieben werden.
Mit Förderung, CO2-Preis und Vorgaben kann der CO2-Ausstoß von Gebäuden auf null sinken, so die Wissenschaftler. Allerdings fehlen derzeit Fachkräfte für die Umsetzung. Empfohlen wird eine Ausbildungsoffensive, die hätte gleichzeitig einen positiven Effekt für den Arbeitsmarkt.
3. Hilfen und grüner Wasserstoff für die Industrie
Eine besondere Herausforderung ist die CO2-neutrale Produktion in der Industrie. Kohle, Öl und Gas sollten durch Strom und grünen Wasserstoff ersetzt werden. Grüner Wasserstoff kann per Elektrolyse aus Ökostrom erzeugt werden und etwa in der Zement- und Stahlherstellung eingesetzt werden. Gleichzeitig wird Wasserstoff künftig ein wichtiger Grundstoff für Basischemikalien in der Chemieindustrie.
Der dafür nötige Strombedarf ist jedoch immens: Der Energiebedarf für die CO2-neutrale Industrie der Zukunft wird laut Berechnungen etwa dem gesamten heutigen Stromverbrauch Deutschlands entsprechen.
Die Autoren der Studie empfehlen daher gleichzeitig die Senkung des Energiebedarfs in der Produktion mit Hilfe einer Kreislaufwirtschaft: Zukünftig sollen Gebrauchtwaren wiederverwertet, gebrauchte Geräte aufbereitet und mehr recycelt werden. So lässt sich der Energiebedarf etwa in der Chemieindustrie bis zu zwei Drittel reduzieren, gleichzeitig entstehen in der Kreislaufwirtschaft neue Jobs.
Empfohlen wird hier ein CO2-Preis von perspektivisch 180 Euro pro Tonne und entsprechende Hilfen, damit die Umstellung in der Produktion gelingt und Firmen international wettbewerbsfähig bleiben.
4. Viel Strom aus Wind und Sonne
Derzeit gibt es in Deutschland Solar- und Windkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von 115 Gigawatt (GW). Sie decken 39 Prozent des Strombedarfs. Zusammen mit Biomasse und Wasserkraft liegt der Anteil von Ökostrom im Netz bei 53 Prozent.
Die Autoren empfehlen einen Ausbau von Solar- und Windkraft um mindestens 25 bis 30 GW pro Jahr - das ist drei bis fünf Mal schneller als in den vergangenen Jahren.
Deutschland könnte dann seine Energie weitgehend selbst erzeugen. Zusätzlich wird der Import von grünem Wasserstoff empfohlen. Dieser könnte den fehlenden Energiebedarf von rund 10 Prozent decken und würde vor allem in der Industrie gebraucht.
Wie geht's weiter?
"Die Studie zeigt deutlich, dass es möglich ist, in Deutschland in den nächsten 15 Jahren klimaneutral zu werden. Was fehlt ist der politische Wille", sagt Carla Reemtsma von Fridays for Future.
Die Fraktionen von SPD, FDP, Linken und Grünen äusserten sich auf DW Anfrage positiv zur Bedeutung der Studie, die AFD lehnt sie ab und die Union äußerte sich dazu nicht.
Das SPD geführte Bundesumweltministerium (BMU) stellt einen zentralen Punkt der Studie heraus. "Der entscheidende Schlüssel ist der schnelle, maximale Ausbau der Erneuerbaren Energien", so der Sprecher des Ministeriums.
Ein sehr schneller Ausbau der Erneuerbaren ist in der Regierung derzeit jedoch umstritten und bislang nicht geplant. Fridays for Future und die Studienautoren hoffen, dass sich das nach der Bundestagswahl im nächsten Jahr ändert.