Wohin mit all den Schweinen?
10. Juli 2020Als Mitte März Bundesgesundheitsminister Jens Spahn dazu aufruft, wegen der Corona-Pandemie alle Großveranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmern abzusagen, als die Krankenhäuser beginnen, sich auf den Corona-Ernstfall vorzubereiten und Deutschland verzweifelt versucht, an Schutzmasken zu kommen, da hat der Fahrer, der jede Woche Florian Hollmanns Schweine zum 70 Kilometer entfernten Schlachthof Tönnies bringt, bereits eine böse Vorahnung. "Was passiert eigentlich, wenn die bei Tönnies auch einen finden, der Corona hat?", fragt er den jungen Bauern.
Vier Monate später muss der 28-Jährige Landwirt in der kleinen Gemeinde Ense in Nordrhein-Westfalen oft an dieses Gespräch denken. Tönnies, Deutschlands größter Schlachthof, ist seit dem 20. Juni dicht.
Mehr als 1500 Corona-Infizierte, tagelanger Lockdown in Gütersloh und Warendorf, die Fleischindustrie steht massiv unter Beschuss. Und nicht nur Deutschlands größter Fleischproduzent Clemens Tönnies hat jetzt ein Problem, sondern auch Florian Hollmann.
Genauer gesagt hat er sogar 400 Probleme. 400 Schweine, die schlachtreif sind und die Hollmann irgendwie in seinen Ställen unterbringen muss. Er sagt: "Das Bedrückende ist, dass ich ständig Platz schaffen muss für die neuen Ferkel. Man muss sehr kreativ sein in diesen Tagen!"
Rückstau in der Fleischindustrie
Die Produktionskette für Schweinefleisch ist ein bisschen wie ein Staffellauf in der Leichtathletik. Alles eng getaktet, Just-in-time-Produktion, die Weitergabe des Stabes ist perfektioniert. Sie startet mit dem Ferkelzüchter, der die kleinen Schweine drei Monate lang aufpäppelt. Dann übernehmen Mäster wie Hollmann, bei denen die Tiere innerhalb von vier Monaten 100 Kilo zulegen. Mit einem Flüssigmix aus Weizen, Gerste, Sojaschrot, Mais und Mineralien.
Unternehmen wie Tönnies, Vion oder Westfleisch schlachten jede Woche in Deutschland eine Million Schweine. Und die Supermärkte bringen das Fleisch ins Ziel, zum Kunden: Mit der Scheibe Wurst, dem abgepackten Schnitzel oder dem Eisbein hinter der Ladentheke.
"Mit den Schweinen, die eigentlich schlachtreif sind, aber nicht geschlachtet werden können, schiebt man so eine Art Bugwelle vor sich her", erklärt Florian Hollmann die aktuelle Situation, "die Welle baut sich immer weiter auf und mittlerweile sind wir bei Tag 20. Und ich frage mich: Wann schwappt die Bugwelle ins Schiff rein? Also wann werden es einfach zu viele Schweine?"
Hollmann, der schon als kleiner Junge Bauer werden wollte und der vor einem Jahr in den Jahrhunderte alten Familienbetrieb eingestiegen ist, hat auf die Bugwelle reagiert und die Schweine auf seine vier fußballfeldgroßen Ställe mit jeweils 1000 Schweinen verteilt. Und sie mit Farbe markiert. Blau heißt: muss bald raus. Rot: so schnell wie möglich.
Schweinepreise im Sinkflug
Vor Corona hat Florian Hollmann noch an jedem Schwein 20 Euro verdient. Für jedes angesprühte Tier zahlt er dagegen 20 Euro drauf. Auch weil die größeren Schweine nicht die Standardmaße für die Fließbänder haben. "Wir alle wollen ja immer gleich große Schnitzel essen, und deswegen muss das Schwein, das geschlachtet wird, auch immer gleich groß sein", erläutert Hollmann, "da gibt es einen Korridor für das Gewicht. Wenn ich zu große Schweine liefere, werde ich auch schlechter bezahlt."
In den letzten Tagen ist der Schweinepreis gleich um einen Viertel eingebrochen. Der junge Landwirt hat wegen der Coronakrise schon fast 10.000 Euro Miese gemacht. Kurz nach der Schließung der Fabrik in Rheda-Wiedenbrück konnte Hollmann seine Schweine noch zum anderen Tönnies-Schlachthof nach Weißenfels in Sachsen-Anhalt schicken. Jetzt geht auch dort nichts mehr.
Jeden Tag greift der Landwirt deswegen zum Telefon und tauscht sich mit seinen Kollegen aus: Was machst Du mit den vielen Schweinen? Baust Du einen Zaun? Welcher Schlachtbetrieb hat noch Kapazitäten? Florian Hollmann hat sich angewöhnt, nur noch im Zeitraum von einigen Tagen zu planen: "Nächsten Dienstag kommen die neuen Ferkel, bis dahin muss ich einen Stall sauber und leer haben." Viel Eigeninitiative, Pragmatismus und Spontaneität sind derzeit gefragt.
Auch weil die Krisenkommunikation, so Hollmann, gerade gegenüber den Landwirten arg zu wünschen übrig lässt: "Wie es bei Tönnies weitergeht, weiß ich genauso wenig wie jeder andere. Informationen bekomme ich nur über die Gütersloher Tagespresse. Aber ich erhalte keine Pressemitteilung oder sonst etwas."
Lehren aus Corona
In einer Woche, Stand heute, soll das Tönnies-Werk in Rheda-Wiedenbrück wieder aufmachen. Dann würden wieder 170 von Hollmanns Schweinen auf den Viehlaster trippeln und eine Stunde später in der Schlachtfabrik ankommen. Und danach? Ändert sich grundlegend etwas in der deutschen Fleischindustrie? Mehr Tierwohl statt Mega-Produktion fordern Tierschützer, humanere Arbeitsbedingungen statt Billig-Preise fordern nun auch viele Politiker. Oder sagt sich die Branche am Ende einfach "Schwein gehabt" und weiter so?
Der Bauer aus Ense glaubt das nicht: "Tönnies ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Das ist ja nicht neu, wie in den Schlachthöfen eng nebeneinander gearbeitet wird, wie die Arbeiter untergebracht sind." Wer es nicht wissen wollte, so Hollmann, habe einfach die Augen verschlossen. "Aber ehrlich gesagt habe ich noch von keinem gehört: 'Wahnsinn, was da los ist. Das hätte ich mir nie erträumen lassen.'"
Hollmann selbst will als Lehre aus Corona versuchen, seinen Bauernhof noch weiter zu diversifizieren. Mehrere Standbeine, falls mal eines wegbricht. Ackerbau macht er schon, Getreide, Mais, Zuckerrüben und Möhren. Vielleicht lässt sich auch die riesige Biogasanlage, die jetzt schon Strom für 700 Haushalte produziert, noch ausbauen.
Seine Schweine möchte er in Zukunft an verschiedene Schlachtbetriebe schicken. Obwohl das heutzutage gar nicht so einfach ist. "Wir hatten früher in Nordrhein-Westfalen 20 oder 30 Schlachthöfe, mittlerweile habe ich nur noch die Wahl zwischen drei oder vier. Das größte Problem ist diese Zentralisierung, die wir immer weiter forcieren."
Die Lehre aus der Coronakrise kann deswegen für Florian Hollmann nur lauten: "Die Politik muss die Rahmenbedingungen schaffen, dass auch kleinere Schlachthöfe überleben können."