Erdogan und die Türken in Deutschland
13. Juni 2011Die Türkei hat gewählt. Im Land selbst war die Wahlbeteiligung hoch. Doch wie wurde die Wahl unter den 2,8 Millionen Menschen türkischer Abstammung in Deutschland wahrgenommen? Das Interesse vieler von ihnen an Politik scheint zu schwinden – an der deutschen wie auch an der türkischen, kritisiert Cebel Küçükkaraca, stellvertretender Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland gegenüber dw-world.de am Montag (13.06.2011). "Zu oft wurden von der deutschen Politik in den letzten Jahren Versprechungen gemacht, die dann nicht gehalten wurden", so Küçükkaraca. "Dabei gibt es viele Probleme. Besonders im Bereich Bildung muss die deutsche Politik etwas für die Türken tun. 20 Prozent der türkischen Kinder verlassen die Schule heute ohne Abschluss." Er warnt: Viele Türken hierzulande fühlten sich von der deutschen Politik nicht ernst genommen.
Bürokratische Barrieren erschweren Teilhabe
Doch was ist mit den türkischen Politikern und den Erwartungen an sie? Immerhin 55 Prozent der Türken in Deutschland haben einen türkischen Pass und sind bei den Parlamentswahlen am 12. Juni wahlberechtigt gewesen. Doch das Wählen wird ihnen schwer gemacht. Ihre Stimme können Türken nur in der Türkei abgeben, nicht in den türkischen Konsulaten oder der Botschaft in Deutschland. Auch die Möglichkeit zur Briefwahl gibt es nicht.
Die Türken aus Deutschland müssen nach wie vor in die Türkei fliegen, wo der Zoll für sie an den Flughäfen Wahllokale einrichtet. "Ich kenne einige Leute, die extra geflogen sind um zu wählen", sagt Küçükkaraca. "Doch bei Türken, die schon in der dritten oder vierten Generation hier sind, fehlt daran das Interesse. Sie bezeichnen sich eher als Deutsch-Türken oder noch viel häufiger als Berliner, als Hamburger, als Kieler und so weiter. Identitätsbildung spielt da eine große Rolle."
Mehrheit der Türken in Deutschland pro Erdogan
1961 wurde das Gastarbeiter-Abkommen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland unterzeichnet. Wenn im Oktober dieses Jahres Angela Merkel und der wiedergewählte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zusammenkommen, werden sie nicht nur das Jubiläum der türkischen Migration nach Deutschland begehen, sondern auch über das deutsch-türkische Verhältnis sprechen. "Die Türken sollen mit der deutschen Regierung zusammenarbeiten", fordert Küçükkaraca, "und Erdogan sollte dabei berücksichtigen, dass sich die Interessen der Türkei und die Interessen der Migranten in Deutschland nicht immer decken."
Er beobachtet, dass sich unter den Politikinteressierten in der türkischen Community in Deutschland in den letzten Jahren eine "starke Unterstützung für Erdogans AKP" herauskristallisiert hat. Immer wieder versuche die Regierung Erdogans, auf die Türken in Deutschland Einfluss zu nehmen. 2008 zum Beispiel hielt der Ministerpräsident eine Rede vor 14.000 Türken in Köln, in der er vor einer zu starken Assimilation warnte, diese gar als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnete. Solche Vorstöße sieht Küçükkaraca kritisch. Für die Zeit nach den Wahlen hat er deshalb einen klaren Wunsch: "Die Türkei gehört zu Europa. Konservative islamische Einflüsse sollen nicht überwiegen. Wir als Türkische Gemeinde Deutschlands möchten, dass die Demokratisierung voranschreitet und der laizistische Staat erhalten bleibt."
Türkische Gemeinde in Deutschland will EU-Mitgliedschaft
Trotz der nationalkonservativen Bestrebungen bezeichnet die AKP von Ministerpräsident Erdogan den EU-Beitritt nach wie vor als ihr "wichtigstes außenpolitisches Ziel". Im diesjährigen Wahlkampf hat der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union trotzdem nur eine sehr kleine Rolle eingenommen und wurde von innenpolitischen Grabenkämpfen überlagert. Für die Türken in Deutschland spielt die Frage der EU-Mitgliedschaft ihres Heimatlandes jedoch eine entscheidende Rolle. "Die sogenannte ´Privilegierte Partnerschaft´ mit der Türkei ins Leben zu rufen, war das Schlimmste, was Frau Merkel je gemacht hat. Deshalb habe ich sie auch so oft kritisiert", so Küçükkaraca.
Wenn sich viele Türken, speziell der dritten und vierten Generation in Deutschland, nicht für Politik interessierten oder anfällig würden für islamisch-konservative Ansichten, läge das vor allem auch daran, dass sie sich als Europäer zweiter Klasse fühlten. "Für die Türkei kann es nur eine Alternative geben: die Vollmitgliedschaft in der EU!", sagt Küçükkaraca.
Dieses Ziel vor Augen, hofft er auch darauf, dass mehr seiner Landsleute in Deutschland anfangen, sich für Politik zu interessieren. "Ansprechpartner kann dabei aber nur die deutsche Politik sein. Die hier lebenden Türken sollen sich wenn, dann in der deutschen Politik engagieren." Die zunehmende wirtschaftliche Stärke der Türkei führt derweil in den letzten Jahren zu einer interessanten Trendwende: Laut Statistik gehen seit 2005 mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei zurück, als umgekehrt aus der Türkei nach Deutschland kommen.