"Wie zersplittertes Glas auf dem Boden"
15. April 2015Sengende Hitze liegt über der staubigen Landschaft in der Provinz Kandal südlich von Phnom Penh. Um sich vor der Sonne zu schützen, hat Arun seinen Krama, den traditionellen Baumwollschal der Khmer, eng um Kopf, Hals und Ohren gewickelt. Der kleine Mann mit dem gekrümmten Rücken ist Bauer und Entenzüchter – und ein ehemaliger Sicherheitsmann der Roten Khmer. Arun ist nicht sein richtiger Name - wir haben vereinbart, dass er den für sich behalten darf.
1975 wurde Arun von den Anhängern Pol Pots rekrutiert, da war er gerade 16 Jahre alt. Man machte ihn zum Wächter in einem Internierungslager unweit von seinem Dorf. Ähnlich wie in dem berüchtigten Foltergefängnis Tuol Sleng in Phnom Penh wurden auch hier Menschen gequält und ermordet. In ganz Kambodscha unterhielten die Steinzeitkommunisten während ihrer Terrorherrschaft solche grausamen Lager.
Menschen seien damals für "Fehler bestraft worden", berichtet Arun zunächst ausweichend. Erst auf Nachfrage gibt er zu, was das bedeutet – brutale Folter und dutzendfacher Mord. Daran beteiligt gewesen sein will er nicht, er habe nur die Namenslisten von Verdächtigen weitergeben müssen.
Was ging ihm damals angesichts der Gräueltaten durch den Kopf? Arun überlegt einen Moment. "Ich habe nicht nachgedacht, sondern nur versucht, alle Befehle genau zu befolgen." Wie viele ehemalige Rote Khmer beruft er sich darauf, keine Wahl gehabt zu haben. "Ich hatte Angst um mich selbst."
Viele Täter sehen sich als Opfer
Tatsächlich brachten die Roten Khmer auch Zehntausende ihrer eigenen Anhänger um. Wurden zu Beginn der Herrschaft Pol Pots vor allem Intellektuelle, Beamte und Anhänger des alten Regimes getötet, verlagerte sich der Massenmord später auf vermeintliche Abweichler in den eigenen Reihen. Das Foltergefängnis Tuol Sleng in Phnom Penh belegt, welches Ausmaß die Paranoia der Revolutionäre erreichte: 80 Prozent der mehr als 14.000 Menschen, die hier qualvoll starben, waren selbst Rote Khmer.
Viele, die dem Pol-Pot-Regime einst dienten, sehen sich deshalb als Opfer. Wie Arun wollen sie an nichts schuld gewesen sein, rechtfertigen ihren Kadavergehorsam mit der Furcht vor grausamer Bestrafung. Statt Mitverantwortung einzuräumen, richtet man den Finger auf jene, die in der Hierarchie weiter oben standen.
Eine Studie der University of California in Berkley belegt, wie tief sich diese Wahrnehmung ins kollektive Bewusstsein eingegraben hat. Danach beschreiben sich 90 Prozent der Kambodschaner, die die Herrschaft der Roten Khmer selbst miterlebt haben, als Opfer. Unter ihren Nachkommen sind es mehr als 50 Prozent.
Hun Sen will Schlussstrich ziehen
Die Klärung von Schuldfragen fällt dem südostasiatischen Land deshalb bis heute enorm schwer. Dazu kommt, dass die alten Seilschaften noch immer existieren und viele ehemalige Kader inzwischen zur politischen Elite gehören. Geht es nach dem Willen der Regierung, kann unter das dunkle Kapitel Kambodschas ohnehin ein Schlussstrich gezogen werden.
Ministerpräsident Hun Sen – bis 1977 selbst Kommandant bei den Roten Khmer – blockiert alle Aufklärungsbemühungen hartnäckig. Dass sich das Rote-Khmer-Tribunal (ECCC) nach der Verurteilung der führenden Köpfe nun weitere Ex-Funktionäre vornehmen will, lehnt er strikt ab. Das Wühlen in der Vergangenheit gefährde den fragilen Frieden im Land, so Hun Sen kürzlich, und könne gar zu einem Bürgerkrieg führen.
Das gegenseitige Misstrauen ist in der Tat groß in Kambodscha. Nicht selten wohnen Täter und Opfer Tür an Tür, manchmal gehören sie sogar zur gleichen Familie. "Unsere Gesellschaft ist wie ein Glas, das auf dem Boden zersplittert ist", beschreibt Youk Chhang vom Documentation Center of Cambodia (DC-Cam), dem weltweit größten Archiv über die Zeit der Roten Khmer, die Situation in seinem Land. Nun, sagt er, muss man die Scherben wieder zusammenzufügen.
Deutschland hilft bei der Aufarbeitung
Die alten Wunden nicht neu aufreißen, Schuldfragen aber auch nicht totschweigen – vor diesem Dilemma steht jeder Versuch, die Erinnerung an den Völkermord wach zu halten. Wie schwer es ist, diesen Grat zu beschreiten, zeigt auch die Kontroverse um neues Denkmal für die Opfer des Foltergefängnisses Tuol Sleng in Phnom Penh.
Rund um die steinerne Stupa liegen schwarze Marmortafeln, auf denen die Namen der Toten aufgelistet sind, sowohl die der Zivilisten als auch der ermordeten Roten Khmer. Finanziert hat das Denkmal die Bundesrepublik, Ende März wurde es von Deutschlands Botschafter eingeweiht, in Anwesenheit ranghoher Mitglieder von Kambodschas Regierung sowie von Vertretern des Rote-Khmer-Tribunals und der UN..
Deutschland mit seiner besonderen Erfahrung in Fragen der Aufarbeitung unterstützt in Kambodscha NGOs, die sich mit dem Völkermord beschäftigen. Das Denkmal jedoch, sagt Youk Chhang vom DC-Cam, sei ein falsches Signal. Bei allem Willen zur Versöhnung dürfe man nicht alle in den gleichen Topf werfen. "Zivilisten und ermordete Anhänger hatten nicht die gleiche Verantwortung." Dass einstige Täter – auch wenn sie später selbst zu Opfern wurden – auf einem Denkmal gewürdigt würden, könne von den Überlebenden des Regimes als Belastung empfunden werden.
Neue Hürden für NGOs
Erinnerungsarbeit und Aufklärung in Kambodscha richtig auszutarieren ist eine Herausforderung. Leichter wird sie in der Zukunft sicher nicht. Ministerpräsident Hun Sen will im Mai ein Gesetz auf den Weg bringen, das es ermöglicht, die Arbeit von NGOs in Kambodscha deutlich strenger zu kontrollieren. Offiziell will er so den möglichen Einfluss von ausländischen Terrororganisationen begrenzen. Dass sich so auch alle zivilen Anstrengungen zur Aufarbeitung des Völkermords besser überwachen lassen, dürfte für ihn ein willkommener Nebeneffekt sein.