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Wird in Deutschland jetzt weniger gestreikt?

Sabine Kinkartz, Berlin22. Mai 2015

In Zukunft soll in deutschen Unternehmen nur noch der Tarifvertrag der Gewerkschaft gelten, die die meisten Mitglieder hat. Das hat der Bundestag beschlossen. Fraglich ist, ob das Gesetz verfassungskonform ist.

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Claus Weselsky GDL
Bild: picture-alliance/dpa/Uwe Zucchi

Es passiert nicht oft, dass im Bundestag so kontrovers debattiert wird, wie das an diesem Freitagmorgen der Fall war. Die Abgeordneten mussten abschließend über das sogenannte Tarifeinheitsgesetz beraten und abstimmen. Das Gesetz enthält Regelungen für Konflikte konkurrierender Gewerkschaften, die innerhalb eines Betriebes einen Tarifvertrag für dieselbe Berufsgruppe durchsetzen wollen: Können sie sich nicht einigen, kommt der Tarifvertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern zum Zuge. Die Minderheitsgewerkschaft geht dann leer aus.

Dahinter steckt die Idee, die Tarifeinheit wieder herzustellen, die in Deutschland bis vor einigen Jahren die Regel war. 60 Jahre lang galt das Prinzip: ein Betrieb, ein Tarifvertrag. Wenn es mehrere Gewerkschaften in einem Betrieb gab, dann mussten diese sich untereinander einigen. Einzelinteressen konnten nicht in einem separaten Tarifvertrag durchgesetzt werden. Dieses Prinzip erklärte das Bundesarbeitsgericht 2010 für ungültig - und stärkte damit den Einfluss der kleinen Spartengewerkschaften.

Beispiel Bahn

Was das heißt, ist seit Monaten bei der Deutschen Bahn AG zu verfolgen. Dort gibt es zwei Gewerkschaften: Die große Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG und die kleine Gewerkschaft der Lokomotivführer GDL. Die beiden Gewerkschaften konkurrieren miteinander nicht nur um die Mitglieder, sie haben auch unterschiedliche Ansichten über Lohn- und Arbeitsbedingungen. Die Bahn steckt mit beiden Gewerkschaften in einem Dauerarbeitskampf. Vor allem die GDL ist äußerst streiklustig, ein Streik über die Pfingstfeiertage konnte soeben noch abgewendet werden.

Die Bahn möchte in diesem Arbeitskampf unbedingt vermeiden, was gemeinhin "Tarifkollision" genannt wird: In einem Betrieb gelten für ein- und dieselbe Arbeit unterschiedliche Tarifverträge, Angestellte bekommen abhängig von ihrer Mitgliedschaft in einer bestimmten Gewerkschaft unterschiedlich viel Lohn.

Mit dem Tarifeinheitsgesetz soll wieder mehr Ruhe in Deutschland einkehren. Die Tarifautonomie - also das unabhängige Aushandeln von Löhnen und Arbeitsbedingungen durch Gewerkschaften und Arbeitgeber - werde durch solche Kollisionen beeinträchtigt, sagte Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) in der abschließenden Debatte im Bundestag. "60 Jahre haben sich die Gewerkschaften von einer Idee leiten lassen, gemeinsam sind wir stärker als gegeneinander." Das sei immer ein "echter Standortvorteil" für Deutschland gewesen.

Deutschland Bundestag Andrea Nahles Gesetz zur Tarifeinheit
Bundesarbeitsministerin Nahles bei der Abstimmung im BundestagBild: Getty Images/AFP/T. Schwarz

Gewerkschafter sollen sich wieder einigen

Was seit der geänderten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts in Deutschland passiere, mache vielen Menschen Sorgen. Die Arbeitgeber, aber auch der Deutsche Gewerkschaftsbund hätten den Gesetzgeber bereits nach dem Urteil 2010 gebeten, die Tarifeinheit wiederherzustellen, erinnerte Nahles. Gewerkschaften sollen es nach dem neuen Gesetz nun selbst in der Hand haben, Tarifkollisionen zu vermeiden: Sie können sich absprechen, dass ihre Tarifverträge für unterschiedliche Arbeitnehmergruppen gelten, sie können eine Tarifgemeinschaft bilden und gemeinsam verhandeln - oder den Tarifvertrag der anderen Gewerkschaft übernehmen.

Das Koalitionsrecht und das Streikrecht würden durch das Gesetz nicht angetastet, wies Nahles die Kritik aus der Opposition zurück. "Manchmal muss gekämpft und manchmal muss gestreikt werden. Auch wenn es am Ende einen Kompromiss gibt, ist es notwendig", betonte Nahles. "Fortschritt und soziale Errungenschaften kommen nicht von alleine", sagte sie mit Verweis auf Themen wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Arbeitsschutz oder das Recht auf Weiterbildung. Auch deswegen stehe das Streikrecht nicht zur Debatte.

Streiks könnten unmöglich werden

Das sieht die Opposition ganz anders. Linke und Grüne sind der Ansicht, die Regierung wolle mit dem Gesetz vor allem das Streikrecht kleinerer Gewerkschaften einschränken. "Kleine Gewerkschaften sollen rechtlich diszipliniert, ruhiggestellt und um ihre Existenzberechtigung gebracht werden", kritisiert Klaus Ernst von der Linkspartei. Der Bundesregierung gehe es in Wahrheit gar nicht um die Tarifeinheit in den Betrieben, denn sonst müsste sie sich erst einmal um die Leiharbeit und um Werkverträge kümmern, die Tarifverträge aushebeln würden.

Deutschland Bundestag Klaus Ernst Die Linke Archivbild
Klaus Ernst von der Links-ParteiBild: picture-alliance/dpa/W. Kumm

Tatsächlich ist ein Streik nur dann rechtlich zulässig, wenn er der Erzielung eines Tarifvertrags dient. Wenn Spartengewerkschaften keinen eigenen Abschluss mehr erzielen dürfen, könnte ihr Streik als unverhältnismäßig gelten. "Sie wollen bestimmte Streiks von kleineren Gewerkschaften verunmöglichen", warf im Bundestag auch der Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter der Bundesregierung vor.

Gegenstimmen aus dem Regierungslager

Für das Gesetz stimmten in namentlicher Abstimmung im Bundestag schließlich 448 Abgeordnete. 126 stimmten dagegen, 16 Parlamentarier enthielten sich. Damit kann das Tarifeinheitsgesetz wie geplant am 1. Juli in Kraft treten.

Nicht nur bei der Bahn gibt es Spartengewerkschaften, die nun um ihren Einfluss fürchten. Neben der GDL haben die Pilotenvereinigung Cockpit und die Ärztegewerkschaft Marburger Bund bereits Verfassungsklage gegen das Tarifeinheitsgesetz angekündigt. Sie wollen so schnell wie möglich das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe anrufen.

Bundesarbeitsministerin Nahles ist indes davon überzeugt, dass das Gesetz einer Überprüfung standhalten wird. Drei Bundesministerien hätten diese Frage im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens geprüft und seien zu dem Ergebnis gekommen, dass der Gesetzgeber seinen erlaubten Spielraum nutze.