Rihm: "Ich kämpfe um jede freie Minute."
26. Oktober 2015Rihms neuestes Werk, ein Doppelkonzert für Violine, Violoncello und Orchester, wurde kürzlich in der Dresdner Frauenkirche aufgeführt und vom Publikum positiv aufgenommen. Anlass war ein Fest zum 10-jährigen Jubiläum der Wiedereinweihung des im Zweiten Weltkrieg zerstörten Bauwerks. Was man in dieser Musik hören kann, erklärt er im DW-Gespräch.
DW: Ihr Werk wird zum zehnjährigen Jubiläum der Wiedereinweihung der Frauenkirche in Dresden aufgeführt. Spiegelt sich der Anlass konkret in der Musik wieder?
Wolfgang Rihm: Nicht direkt. Es war eine Frage von Jan Vogler an mich, ob ich eine Art Doppelkonzert für ihn und seine Frau schreiben wolle. Erst später kam der Anlass dazu. Ich dachte: Schön, man schreibt etwas, bei dem sich zwei Stimmen auseinandersetzen, einen Dialog führen und nach und nach zu einer Einheit verbinden. Das passt eigentlich sehr gut zum Wiederaufbau der Frauenkirche. Es ist jedoch eher atmosphärisch, und dann habe ich vielleicht eine Bildsphäre, in der ich mich aufhalte. Aber ich habe jetzt keine symphonische Dichtung über die Frauenkirche, ihre Architektur und ihre Geschichte komponiert, sondern ein Stück für zwei Menschen und ein Ensemble.
Sie sprachen von Bildsphären. Im Moment strotzt Dresden vor Bildern: 30.000 Demonstranten einerseits, die schöne Altstadtkulisse andererseits. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesen Bildern und den Bildsphären, die in Ihrer Komposition vorkommen?
Damit meine ich den gemeinschaftlichen Willen, etwas wieder zu errichten, was zerstört war. Das ist eine Metapher natürlich. Und vielleicht hilft dieser Wille auch, all' diese Verwirrungen, die sich zurzeit um diese Architektur herum bei bestimmten Demonstrationen abspielen, zu entwirren.
Schreiben Sie nur Auftragswerke?
Ab einem gewissen Alter wird alles, was man schreibt, zu einer Art Auftrag. Auftrag heißt nur, dass jemand das Recht zur Uraufführung erwirbt. Das heißt nicht, dass er im Takt 19 einen Dreiklang haben möchte und im Takt 34 ein Flötensolo. Für mich heißt Auftrag inzwischen: "Schreib ein Stück, so wie du es schreibst." Und das wird dann zum Auftrag.
Heißt das, dass externe Einflüsse eine geringe Rolle bei ihrem Werk spielen?
Höchstens dann, wenn ich für bestimmte Spieler schreibe. Und das ist hier der Fall. Ich kannte die Solisten, und wusste auch, dass sie verheiratet sind. Von daher habe ich natürlich auch die Möglichkeit gehabt, eine Paarbeziehung innerhalb des Soloparts zu bedenken. Das Zusammen- und Auseinandergehen, das Kämpferische und das Innnige: Beides zusammen bildet den Klangstrom.
Das klingt so, als stehe der spielerische Moment im Vordergrund.
Sicher. Es ist eine Musik für Virtuosen, für Könner und nicht für Laien. Aber "spielerisch" meine ich nicht im Sinne von "heiter", sondern im Sinne von Impuls, Aktion, Energie und Energie-Weitergabe.
Jeder Komponist hat seine eigene Handschrift. Wir können ein Stück von Brahms, Mozart oder Schubert gleich erkennen, was daran liegt, das uns die historische Musik vertraut ist. Aber heute gibt es im Vergleich zu früher eine Pluralität von Musikstilen und -ansätzen. Alles ist in der Komposition heute möglich. Müssen Sie sich daher jedes Mal die Parameter neu überlegen? Oder arbeiten Sie in einer bestimmten Richtung immer weiter?
Selbstverständlich bin ich in der Kontinuität des Schaffens. Ich bin jetzt 63 Jahre alt, und ich komponiere seit frühester Kindheit. Es gibt den Musikstrom, der durch mich hindurch geht und von mir ausgelöst wird. Was die ältere Musik betrifft: Wenn Sie einem durchaus gebildeten Hörer eine Sinfonie von Vanhal oder von Eberl vorspielen, wird er sagen: "Ah, Mozart!" oder "Ah, Beethoven!" Es klingt so ähnlich, das ist die Klangsprache jener Zeit. Und ich bringe immer gern das Beispiel: Bei der Uraufführung der "Eroica"-Sinfonie von Beethoven war eine Sinfonie von Anton Eberl auch auf dem Programm, und das Publikum fand die viel besser!
Wird man also in 50 oder 100 Jahren sagen können: "Aha, das ist der Stil der 10er-Jahre des 21. Jahrhunderts, das ist ein Rihm!"
Wenn man frühere zeitgenössische Berichte liest, gab es zu allen Zeiten das Gefühl: "Ja, früher war alles ganz einfach, aber jetzt ist es kompliziert." Die Leute zur Zeit von Bach fanden Bach kompliziert, und so war es auch bei Beethoven und Wagner. Das löst sich mit der Zeit auf. Das Wichtige ist, dass in einem Werk sehr viel gefunden werden kann, wenn man richtig sucht.
Also was die Musik von heute betrifft, sehen wir den Wald von lauter Bäumen nicht…
Und das ist völlig normal! Wenn das Stück jetzt hier in der Frauenkirche gespielt wird, wird der eine den Ausdruck einer schwierigen gegenwärtigen Situation darin hören, und der andere wird es hören als einen tröstlichen Verweis auf heilsame Kräfte. Jeder kommt mit seiner Frage an die Kunst und bekommt seine Antwort.
Sie sind schon lange ein erfolgreicher Komponist. Wie hat sich Ihr Leben über die Jahre verändert?
Ich bin ein privat lebender Mensch und reise nicht viel. Inzwischen habe ich aber mehr Verpflichtungen, sitze in verschiedenen Gremien und nehme gestalterisch am Musikleben teil. Das war am Anfang nicht so. Mittlerweile kämpfe ich um jede freie Minute, arbeiten zu können. Dinge, die nicht zentral wichtig sind, nehmen mir die Kraft, und die brauche ich zum Arbeiten.
Wolfgang Rihms "Duo Concerto" für Violine, Violoncello und Orchester können Sie als Video on Demand bei medici.tv hören.