Zehn Romane des Jahres
26. Dezember 2014Bei den meisten Neuerscheinungen handelt es sich um Ratgeber und Sachbücher aller Art, um technische Nachschlagewerke und Fachbücher für alle möglichen Berufsgruppen. Doch auch die Belletristik schlägt sich wacker. Gerade die erzählende Literatur ist das, was den passionierten Leser bewegt. Auch hier ist das Angebot kaum überschaubar. Wer kann schon von sich sagen, dass er einen Überblick über alle belletristischen Neuerscheinungen hat? Auch die fleißigsten Kritiker und Leser müssen sich auf eine Auswahl beschränken. Insofern fällt jeder Jahresrückblick in Sachen Belletristik subjektiv aus:
Das Thema Erster Weltkrieg war in diesem Jahr in aller Munde. Auch die Schriftstellerinnen und Schriftsteller legten eine ganze Reihe bemerkenswerter Romane vor. Einer der besten war "Tobys Zimmer" von Pat Barker. Wie die Britin das Schicksal ihrer Protagonisten miteinander verknüpft und dabei nicht nur von den Nachwirkungen des großen Schlachtens erzählt, sondern auch über Familienbande philosophiert, ist psychologisch stimmig und eindringlich geschrieben.
Auch der niederländische Autor Stefan Hertmans hat ein höchst eindrucksvolles Buch über den Ersten Weltkrieg vorgelegt. "Der Himmel meines Großvaters" stützt sich auf die Aufzeichnungen des Großvaters des Autors. Hertmans hat daraus einen großen poetischen Roman gemacht, voller Zartheit in der Beschreibung seiner Charaktere. Seine ganze Wucht erhält das Buch durch die Beschreibung des Kriegsalltags aus der Perspektive eines flämischen Soldaten.
Aus deutscher Sicht schrieb Hans Herbert Grimm 1928 unter Pseudonym den Roman "Schlump. Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt 'Schlump', von ihm selbst erzählt." Das Werk wurde jetzt anlässlich des Gedenkjahres wiederentdeckt. Gerade im Vergleich zu Hertmans Buch zeigt es, dass es den einfachen Soldaten auf allen Seiten gleich erging. Die ganze Absurdität der großen Völkervernichtung wird auch hier in ihrer grausamen Konsequenz überdeutlich.
Ebenfalls eine der großen Wiederentdeckungen des Jahres ist der australische Roman "Was sie begehren" aus dem Jahre 1937. Kenneth Mackenzie schrieb das Buch im Alter von 23 Jahren - was kaum fassbar ist, wenn man diesen gleichzeitig zarten wie hart-realistischen Internats-Roman heute liest. Große Literatur vom anderen Ende der Welt über das Erwachsenwerden - eines der allzeit gültigen Themen der Weltliteratur. Zum allersten Mal überhaupt in deutscher Übersetzung!
Gaito Gasdanow dürfte manchen Lesern dagegen schon geläufiger sein. Der russische Schriftsteller wurde bereits vor zwei Jahren mit seinem Buch "Das Phantom des Alexander Wolf" für den deutschsprachigen Raum wiederentdeckt. Sein Roman "Ein Abend bei Claire" erschien bereits 1929 im Pariser Exil und jetzt auf Deutsch. Ein Erinnerungsbuch über eine große, verblichene Liebe. Auch ein Buch, das uns das vorrevolutionäre Russland in Erinnerung ruft, voller Melancholie und Wehmut.
Ein halbes Jahrhundert früher erschien der Roman "Washington Square" des gebürtigen New Yorkers Henry James. Dessen Romane kommen derzeit nach und nach in Neuübersetzungen heraus. In "Washington Square" macht uns der große Erzähler mit Dr. Austin Sloper bekannt, seiner Tochter Cathrin und den Bemühungen des Vaters, diese unter die Haube zu bekommen. Wer denkt, das Thema sei althergebracht, der lese diesen ungemein dicht geschriebenen und spannenden Roman.
Noch tiefer zurück ins 19. Jahrhundert gelangen wir mit Nathaniel Hawthorne, dessen Roman "Der scharlachrote Buchstabe" zu den großen wiederübersetzten Klassikern des Jahres 2014 gehört. Die Geschichte der Hester Prynne im puritanischen Amerika hat nichts an Aktualität verloren. Auch hier gilt: Die großen Themen der Weltliteratur, in diesem Fall Heuchelei und Bigotterie, altern nicht. "Der scharlachrote Buchstabe" ist glänzend geschrieben und zeigt einmal mehr: Die Meisterwerke der Weltliteratur kann man immer wieder lesen.
Auch das aktuelle Romangeschehen in Deutschland kann auf einen starken Jahrgang zurückblicken. Thomas Hettches "Die Pfaueninsel" verlor das Rennen um den Deutschen Buchpreis zwar knapp gegen Lutz Seilers "Kruso", doch war das Buch für viele dasjenige, das mehr zu Herzen ging. Hettche hat einen glänzenden Roman über den Wandel der Zeiten zu Beginn des 19. Jahrhunderts geschrieben - mit einer kleinwüchsigen Hauptdarstellerin, die man nicht mehr vergisst.
Michael Köhlmeiers neuer Roman "Zwei Herren am Strand" schaffte es nicht auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Für viele unverständlich. Der Autor macht uns bekannt mit einer der wunderlichsten Freundschaften des 20. Jahrhunderts: der zwischen Winston Churchill und Charlie Chaplin. Und wer wissen will, für was der Schwarze Hund steht und wie die beiden ihn zur Strecke bringen, der lese dieses schöne Buch.
Einen der vergnüglichsten deutschsprachigen Romane anno 2014 schrieb Thomas Meyer. "Rechnung über meine Dukaten" erzählt von der Manie eines Königs, seine Leibgarde einzig und allein mit langen Kerls zu besetzen. Eine Art Gegenstück zur "Pfaueninsel". So bleibt von der deutschen Literatur der vergangenen Monate nicht nur das Schicksal einer kleinwüchsigen Frau in Erinnerung, sondern auch das eines Riesen im Reich der Preußen.
"Tobys Zimmer" ist im Dörlemann-Verlag erschienen, "Schlump" und "Die Pfaueninsel" bei Kiwi, "Washington Square" bei Manesse, "Rechnung über meine Dukaten" bei Salis, die anderen bei Hanser beziehungsweise bei Hanser Berlin.