Der Tag, an dem Ägyptens Fußball starb
1. Februar 2022Die Bilder, die am 1. Februar 2012 aus dem Stadion von Port Said im Norden Ägyptens um die Welt gingen, schockieren bis heute: Kurz vor dem Ende der Partie zwischen den großen Rivalen Al Masry aus Port Said und Al Ahly aus Kairo stürmen Fans der Heimmannschaft das Spielfeld und dringen in den Gästeblock ein, wo sie mit abgebrochenen Flaschen und allen möglichen Gegenständen auf die gegnerischen Anhänger losgehen. Rund 20 Minuten dauert das mörderische Treiben, das in einer Massenpanik endet. Die traurige Bilanz: Mindestens 72 Tote, über tausend Verletzte. In anderen Berichten ist von 74 Toten die Rede.
Es war der schwärzeste Tag in der Geschichte von Ägyptens Fußball. Was blieb, waren Wut, Verzweiflung und Trauer. Bis heute. "Wenn ich daran zurückdenke, kommen mir zuerst meine Freunde in den Sinn, die an diesem Tag gestorben sind. Manchmal fällt es mir noch heute schwer zu glauben, dass das alles wirklich passiert ist", sagt Ahmed Gaffar im Gespräch mit der DW. Wie der Filmemacher aus Kairo waren auch die meisten Opfer am 1. Februar 2012 Fans von Al Ahly, dem erfolgreichsten Klub Ägyptens. "Auch ich war in großer Gefahr, so wie alle Al-Ahly-Fans. Wir saßen in der Falle und wurden von allen Seiten angegriffen", erinnert sich der 32-Jährige.
Sicherheitskräfte griffen kaum ein
Die Tragödie war offenbar eine politisch motivierte und geplante Aktion. In lokalen Medien war schon Tage vor dem Spiel von einem "Treffen der Vergeltung" die Rede. Bis heute sind die genauen Umstände des Gewaltexzesses nicht vollständig geklärt. Es steht jedoch fest, dass die Sicherheitskräfte im rund 20.000 Zuschauer fassenden Stadion von Port Said, wenn überhaupt, nur zögerlich eingriffen und die Katastrophe geschehen ließen. Neben den Al-Masry-Fans seien "natürlich auch diejenigen, die für die Sicherheit der Fans verantwortlich waren," Schuld an der Tragödie, meint Ahmed Gaffar.
Die Ultras des Klubs Al Ahly galten als Speerspitze der Proteste, die 2011 zum Sturz des autokratisch regierenden Präsidenten Hosni Mubarak geführt hatten. Bei den wochenlangen Kundgebungen der Opposition auf dem Tahrir-Platz in Kairo hatten sie sich schützend vor die Demonstranten gestellt und sich teilweise Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften geliefert.
Laut einer Untersuchung gingen in Port Said organisierte Schläger aus den Reihen der Mubarak-Treuen auf die Al-Ahly-Anhänger los. Es soll Absprachen gegeben haben, während der Eskalation das Flutlicht auszuschalten. Augenzeugen berichteten zudem, dass die Türen in den Gängen, die aus dem Gästeblock hinausführten, abgeschlossen gewesen seien. Die Gänge wurden während der Massenpanik zur tödlichen Falle.
"Wie Krieg"
Andere Augenzeugen berichteten, Fans von Al Masry hätten vor dem Spiel ungehindert Schlagstöcke, Messer, Schwerter und sogar Schusswaffen an den Sicherheitskräften vorbei ins Stadion bringen können. Auch einige Spieler von Al Ahly wurden bei den Ausschreitungen verletzt. "Das war wie Krieg", sagte Emad Moteab 2017 in einem Interview mit der "Hannoverschen Allgemeinen Zeitung". Er habe bereits bei der Anreise "ein ungutes Gefühl" gehabt, erinnerte sich der Al-Ahly-Profi: "Wir hatten von mehreren Seiten gehört, dass es im Stadion zu Unruhen kommen könnte. Aber natürlich hatte keiner gedacht, dass es so schlimm werden würde."
Auch in den Tagen danach gab es im ganzen Land gewaltsame Auseinandersetzungen, bei denen mehrere Menschen ums Leben kamen. Oppositionelle warfen dem seit Mubaraks Sturz regierenden Militärrat vor, die Katastrophe herbeigeführt zu haben. Die Machthaber hätten "Chaos inszeniert", um die Ägypter "revolutionsmüde zu machen", sagte der deutsch-ägyptische Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad wenige Tage nach dem Blutbad in Port Said in einem Interview.
Todesurteile und Haftstrafen
Ein Jahr später, im Februar 2012, hieß es in einem Untersuchungsbericht, die Schuld an der Katastrophe trügen die Fans und Sicherheitskräfte im Stadion, nicht der Militärrat. Ein Prozess gegen 73 Angeklagte endete im Januar 2013 mit 21 Todesurteilen und zahlreichen Haftstrafen. Elf Todesurteile wurden im April 2015 bestätigt. Die Strafen seien politisch motiviert, die Angeklagten als Sündenböcke verurteilt, die wahren Schuldigen weiter auf freiem Fuß, hieß es vielerorts. Einen Schlusspunkt setzte der Prozess für die Familien der Opfer nicht. "Ich kenne Angehörige, die den Schmerz bis heute nicht verarbeitet haben. Für sie ist jeder Tag der 1. Februar 2012. Immer und immer wieder", sagt Ahmed Gaffar.
Der Fußball in Ägypten stand zunächst still. Der Klub Al Masry wurde nach dem Blutbad in Port Said für zwei Jahre vom Spielbetrieb ausgeschlossen, das Stadion für drei Jahre gesperrt. Emad Moteab und weitere Fußallprofis erklärten ihre Karrieren "aus Respekt vor den getöteten Fans" für beendet - Moteab revidierte die Entscheidung später. Erst ein Jahr und einen Tag nach der Katastrophe nahm die ägyptische Liga den Spielbetrieb wieder auf: mit einem Spiel von Al Ahly, unter massiven Sicherheitsvorkehrungen, ohne Zuschauer. "Wir werden euch niemals vergessen", stand auf dem Shirt, das Al Ahlys Siegtorschütze Dominique da Silva unter seinem Trikot trug.
Afrika-Cup-Begeisterung statt Gedenken
Doch auch zehn Jahre nach der Katastrophe kann von Normalität in Ägyptens Fußball noch keine Rede sein. "Bis vor kurzem waren die Fans ausgeschlossen. Seit einiger Zeit dürfen bei Ligaspielen wieder ein paar tausend Fans ins Stadion", sagt Ahmed Gaffar.
Der Fokus der ägyptischen Öffentlichkeit liegt in diesen Tagen weniger auf dem Gedenken an das Blutbad von 2012 als auf dem aktuellen Erfolg der Nationalmannschaft beim Afrika Cup: Das Team um Superstar Mohamed Salah steht im Finale. Rekordsieger Ägypten träumt vom achten Titel.
"Einmal im Jahr, am Jahrestag der Katastrophe, wird der Opfer gedacht. Das ist alles", sagt Ahmed Gaffar. "Bereits am Tag danach wird das Interesse wieder der Nationalmannschaft gelten."
Der Kairoer Klub Al Ahly feierte seit dem schwärzesten Tag in der Geschichte von Ägyptens Fußball sechs Meistertitel und triumphierte viermal in der afrikanischen Champions League. Diese Erfolge können für Fans wie Ahmed Gaffar die Tragödie von Port Said nicht vergessen machen: "Für mich und viele andere sind an diesem Tag neben 72 Menschen auch der Fußball und die Leidenschaft für ihn gestorben."
Der Artikel wurde nach dem Finaleinzug Ägyptens beim Afrika-Cup aktualisiert.