Zwei Jahre nach dem Bataclan-Anschlag
13. November 2017Auf dem von Bäumen gesäumten Fußgängerstreifen in der Mitte der Straße vor dem "Bataclan" joggt eine junge Frau vorbei. Ein älterer Herr führt seinen Hund aus. Gegenüber haben sich Jugendliche mit Kapuzenjacken und Bierdosen in der Hand um eine Parkbank versammelt und hören Hiphop aus einem scheppernden Handylautsprecher.
Alles scheint normal auf dem Boulevard Richard Lenoir im 11. Arrondissement von Paris. Nur ein etwa hüfthoher, unscheinbarer Gedenkstein in der Mitte des Grünstreifens erinnert an den Terroranschlag auf den Musikclub "Bataclan" am 13. November 2015. Ein paar Chrysanthemen - weiß, gelb und rosa - stehen einsam um den Stein herum.
Damals erschossen drei islamistische Terroristen 90 Menschen bei einem Konzert der Band "Eagles of Death Metal". Am selben Abend, fast zur selben Zeit, explodierten an verschiedenen Orten in Paris Bomben, wurden Menschen in Bars und auf der Straße angegriffen und getötet. Insgesamt 130 Menschen starben.
Normalität im Ausnahmezustand?
Der 55-Jährige Ronam wohnt im Haus direkt neben dem Bataclan. Er möchte seinen Nachnamen lieber nicht nennen. Seine kleine Tochter zieht ungeduldig an seinem Arm. Vor zwei Jahren, erinnert sich Ronam, da habe er zuerst gar nicht begriffen, was der Lärm und die Schüsse nebenan bedeuteten. Doch dann wurden die vielen Särge an seinem Fenster vorbei getragen.
Hat sich etwas verändert in seinem Leben? "Eigentlich nicht, komischerweise." Hat er keine Angst? "Nein, weil man so ja nicht leben kann. Man geht einkaufen, in die Schule, arbeiten, Brot kaufen. Und nach einem oder zwei Monaten denkt man nicht mehr dran."
Doch obwohl die Leute wieder einkaufen, joggen, mit ihren Hunden Gassi gehen, obwohl alles normal scheint, hat sich etwas verändert. An fast jeder Ampelkreuzung stehen Polizisten und Militär mit Maschinengewehren, Funkgeräten und angestrengten Mienen.
32 Terroranschläge vereitelt
Der Ausnahmezustand, den der damalige französische Präsident Francois Hollande kurz nach dem Anschlag auf das "Bataclan" ausrief, dauerte fast zwei Jahre an. Immer wieder wurde er verlängert, auch unter dem neuen Präsidenten Emmanuel Macron. Neben mehr Personal bei Polizei und Militär machte der Ausnahmezustand auch Hausdurchsuchungen und Hausarrest ohne richterliche Anordnung möglich.
Didier Rendu, Polizist und Polizeigewerkschafter, begrüßt die größeren Befugnisse der Polizei. "Der Ausnahmezustand hatte auf jeden Fall eine positive Wirkung auf unseren Kampf gegen den Terrorismus. Er hat erlaubt, Individuen zu identifizieren - Menschen, die unter normalen Umständen vielleicht unter dem Radar verschwunden wären. Das heißt, der Ausnahmezustand hat der Polizei mehr Einsatzmöglichkeiten gegeben."
Öffentliche Versammlungen wie Demonstrationen konnten durch den Ausnahmezustand verboten oder aufgelöst, der Zugang zu öffentlichen Plätzen beschränkt und kontrolliert werden. Die offizielle Bilanz: 32 Terroranschläge wurden innerhalb der zwei Jahre vereitelt, 4457 Wohnungen und Moscheen durchsucht, 439 Menschen unter Hausarrest gestellt, 17 Moscheen geschlossen - 11 davon sind es immer noch.
Meistens trafen diese Maßnahmen Muslime, weswegen viele Menschenrechtler den Ausnahmezustand als diskriminierend beschreiben - so auch der Anwalt und Menschenrechtler Emmanuel Daoud: "Die betroffenen Menschen sind oft, eigentlich fast ausschließlich - mit Ausnahme extrem Linker - muslimischen Glaubens."
Sicherheit oder Freiheit?
"Ich glaube, es war nötig, dass die Politik etwas tut", sag Ronam. Seine Tochter zieht nun nicht mehr an seinem Jackenärmel, sondern wartet ungeduldig vor ihrer Haustür- direkt neben dem "Bataclan". Ronam beobachtet sie aus dem Augenwinkel, er denkt nach. "Wir sind wohl dazu gezwungen, ein paar Freiheiten aufzugeben. Wenn man Dutzende Särge an seinem Fenster vorbeiziehen sieht, denkt man nicht mehr so sehr an die Meinungsfreiheit, sondern eher daran, sich mit dem Kinderwagen frei bewegen zu können."
Doch Emmanuel Daoud, Mitglied in der Internationalen Föderation für Menschenrechte und Anwalt am Internationalen Strafgerichtshof, sieht keine Vorteile durch den Ausnahmezustand, sondern eine Gefahr für die Gewaltenteilung. "Die Behörden konnten ihren Einfluss auf die individuellen Freiheiten ausweiten. Es wurde eine neue Rechtsform für Verdächtige geschaffen, die deren Freiheiten schon einschränkten, bevor sie einen strafbaren Akt begehen konnten. Außerdem wurden die Maßnahmen oft diskriminierend eingesetzt". Dabei konnte auch ein Anwalt oft keinen großen Einfluss nehmen, kritisiert Daoud. "Die Justiz war vom Ausnahmezustand ausgeschlossen".
Für Didier Rendu ist die Sicherheit das entscheidende Argument: "Ich sehe die Kritik, aber der Kontext hat sich geändert. Man muss den Grad der Bedrohung ins Verhältnis setzen zur Wichtigkeit, die die Sicherheit für uns hat."
Dauerhafte Ausnahme?
Am 1. November beendete Präsident Macron den Ausnahmezustand. Doch viele der Bestimmungen sind nach wie vor in Kraft - denn ein neues Anti-Terrorismus-Gesetz hat den Ausnahmezustand abgelöst. Es setzt nun vieles von dem fort, was für den Notfall bestimmt, aber schon Alltag geworden war.
Terrorverdächtige können dazu verpflichtet werden, ihre Stadt nicht zu verlassen und sich regelmäßig bei der Polizei zu melden. Nach wie vor dürfen Wohnungen durchsucht werden. Allerdings ist dafür jetzt eine richterliche Erlaubnis nötig. Auch Gebetshäuser können immer noch geschlossen werden, wenn sie extremistische Ideen propagieren.
"Die Bestimmungen des neuen Gesetzes enthalten viele Angriffe auf Rechte und Freiheiten, die durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt sind", stellt Emmanuel Daoud fest. "Das Recht auf Sicherheit, auf die Achtung des Privat- und Familienlebens, die Gewissens- und Religionsfreiheit usw. Das macht eine Anfechtung des neuen Gesetzes vor den europäischen Instanzen recht wahrscheinlich."
Das "Gesetz zur Stärkung der inneren Sicherheit und des Kampfes gegen den Terrorismus", wie es offiziell heißt, "macht es möglich, nur auf der Grundlage eines Verdachts und ohne eine nachgewiesene Straftat Maßnahmen zu ergreifen und die persönlichen Freiheiten einzuschränken. Außerdem drohen die Gefahren des Gesetzes nur einen kleinen Teil der Gesellschaft zu betreffen, der schon Opfer des Ausnahmezustands war. Das wiederum wird unsere Gesellschaft noch mehr spalten und sie empfindlicher machen."
Wir müssen vergessen
Neben dem Café "Bonne Bière", in dem vor zwei Jahren fünf Menschen erschossen wurden, geht eine kleine ruhigere Straße rechts ab. Nicht weit entfernt von der Kreuzung steht die Studentin Marilou Drulhes vor einer Eingangstür und wartet auf ihre Freundin.
Ob der Ausnahmezustand gut war oder nicht, darüber hat sie sie sich noch gar nicht wirklich Gedanken gemacht, sagt Drulhes nachdenklich. "Vielleicht für ein paar Tage oder Wochen. Die Menschen haben ja das Bedürfnis, sich sicher zu fühlen. Aber dann…"
Und das Anti-Terrorismus-Gesetz? Viele Regelungen des Ausnahmezustandes wurden schließlich übernommen und dauerhaft gemacht. "Nein, ich glaube, das ist keine Lösung, die Freiheiten zu beschneiden. Aber ich habe noch nicht so viel von dem Gesetz gehört. Aber ich bin gegen die Einschränkung unserer Freiheiten. Ich glaube, das wird eher Angst schüren und Gemeinschaften spalten."
Der Bäcker an der Ecke, gegenüber vom Café "Bonne Bière" wurde vor zwei Jahren auch von einigen Kugeln getroffen. Hinter der Vitrine liegen duftende Tartes und Baguettes. Ahmed Meziane bäckt und verkauft hier seit acht Jahren seine Waren. Er kommt ursprünglich aus Marokko. Er befürwortet das Anti-Terrorismus-Gesetz, denn die Polizei beschütze ihn und seinen Laden. Am heutigen Tag kämen schon einige Erinnerungen hoch. Aber er will nur nach vorne schauen. "Wir müssen vergessen. Wir haben unseren Laden vor vier Monaten umgebaut und renoviert, um alles zu vergessen. Das hat uns wieder Lust gegeben, hier zu arbeiten."