Zweite Chance
20. Oktober 2010Als Wolfgang Niedecken 2004 erstmals die riesigen Flüchtlingslager in Gulu im Norden Ugandas besucht, ist der Musiker erschüttert. "So etwas Brutales habe ich mir in meinen schlimmsten Phantasien nicht vorstellen können", sagt der 59 Jahre alte Frontmann der Kölner Kultband BAP heute. Zehntausende von Menschen, die von marodierenden Milizen tyrannisiert werden; Eltern, deren Kinder entführt und zu Soldaten gemacht wurden; Familien, die diese Kindersoldaten verstoßen haben, weil sie wissen, dass sie Menschen mit Macheten massakriert haben, möglicherweise sogar Verwandte; Kinder, die selbst schon Kinder haben, weil sie vergewaltigt wurden. "Das bricht dir wirklich das Herz", erinnert sich Niedecken. "Wenn du selbst Kinder hast, kannst du nicht mehr zur Tagesordnung übergehen. Die Kinder dort werden deine eigenen Kinder."
Versprechen gehalten
Ein Mädchen habe ihn damals angefleht: "Please, Mister, promise not to forget!" (Bitte versprechen Sie, dass Sie uns nicht vergessen!) Niedecken hielt sein Versprechen. Er lud seinen Freund, den Unternehmer Manfred Hell ein, ihn nach Norduganda zu begleiten. 2007 war es soweit. Hell, Geschäftsführer des Outdoor-Ausrüsters Jack Wolfskin, besuchte mit Niedecken unter anderem ein großes Flüchtlingslager an der Grenze zum Südsudan und sprach dort mit Opfern von Massakern. Auch bei dem 54-Jährigen wurde ein Schalter umgelegt: "Mir war dann klar. Es geht einfach nicht, jetzt noch durch die Welt zu laufen und zu sagen: Ich habe das zwar gesehen, aber ich versuche erst gar nicht zu helfen."
Beide riefen 2008 das Projekt "Rebound" ins Leben, das von der Hilfsorganisation World Vision betreut wird. Ziel ist es, den früheren Kindersoldaten im Norden Ugandas eine zweite Chance zu geben, sie zu resozialisieren. Mit den Geldern von "Rebound" werden drei Schulen finanziell unterstützt. Dort können die ehemaligen Kindersoldaten in sogenannten "Friedenshäusern" auf dem Schulgelände schlafen. Tagsüber werden sie ausgebildet, die Jungen etwa zu Maurern oder Schreinern, die Mädchen zu Bäckerinnen oder Näherinnen. Auch Tagesstätten für die Kinder der vergewaltigten jungen Ex-Soldatinnen stehen jetzt zur Verfügung.
Erstaunliche Koalitionen
"Wir sehen jede Menge Fortschritte", sagt Manfred Hell. Allerdings habe man auch von der politischen Entwicklung profitiert. Die Entführungen hätten aufgehört. Auch Wolfgang Niedecken zieht eine positive Zwischenbilanz: "Ich habe so viele glückliche Jugendliche gesehen, die ohne unser Zutun nicht dahin gekommen wären. Das ist es mir wert."
Niedecken will auch weiterhin Lobbyarbeit für die früheren Kindersoldaten in Uganda machen. Er habe inzwischen ein gut funktionierendes Netz zu Politikern aller Parteien geknüpft. "Auf einmal hast du die erstaunlichsten Koalitionen, die etwas verändern wollen." Mit dem ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler, der sich sehr für Afrika einsetzte, war der Kölner Musiker häufig unterwegs. "Das war großartig", sagt Niedecken. Er hoffe, dass der neue Bundespräsident Christian Wulff diesen Weg fortsetze. "Ich habe die ersten Signale, dass es weitergeht." Humanitäre Hilfe allein reiche aber nicht aus. Die internationale Politik sei gefordert, etwa wenn es darum gehe, Rohstoffe aus Konfliktregionen zu zertifizieren oder fairen Handel zu unterstützen.
15-Jährige mit HIV-infizierten Babys
Nach Schätzungen von Hilfsorganisationen gibt es weltweit rund 250.000 Kindersoldaten. In Uganda sollen innerhalb von zwei Jahrzehnten 30.000 Kinder entführt und als Kämpfer oder Sexsklavinnen missbraucht worden sein. Wolfgang Niedecken erinnert sich an eine Begegnung mit zwei 15 Jahre alten Mädchen in einem Flüchtlingslager. "Sie waren am Abend zuvor aus dem Busch zurückgekommen, als einzige ihres Trupps bei einem Gefecht übrig geblieben. Beide hatten HIV-infizierte Babys. Sie guckten durch mich hindurch. Diese Blicke werde ich niemals vergessen."
Autor: Stefan Nestler
Redaktion: Arnulf Boettcher