Zwischen Soldaten und Dschihadisten
27. Juni 2016Entweder wären sie durch die Schergen der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) gestorben. Oder durch das Bombardement der irakischen Armee. Also entschlossen sie sich zur Flucht. So erzählt es eine junge Mutter, die mit ihren vier Kindern aus Mossul geflohen ist – so wie rund 100.000 andere Einwohner der Stadt auch. Seit die irakische Armee Ende März begann, den Belagerungsgürtel um die vom IS besetzte Millionenstadt langsam enger zu ziehen, entschlossen sich immer mehr Bewohner, sich vor in absehbarer Zeit einsetzenden Kämpfen in Sicherheit zu bringen. "Zunächst flohen die Menschen vor dem IS. Jetzt fliehen sie auch noch vor den irakischen Streitkräften", umreißt ein junger irakischer Soldat im Gespräch mit der irakischen Zeitung Al-Madda die Situation.
Dabei steht das Militär derzeit noch relativ weit vor Stadt. Der Gürtel um die Stadt ist noch relativ locker und zudem noch nicht einmal vollständig geschlossen. Der Großteil der Truppen ist gut 70 Kilometer südlich von Mossul stationiert. Von dort muss die Armee weitere Kreise ziehen, bevor der eigentliche Angriff beginnen kann. Ein weiteres Problem: Die irakische Armee verfügt noch nicht über hinreichend qualifizierte Soldaten. Zwar hat sie mit Hilfe der Amerikaner rund 23.000 Soldaten ausgebildet. Aber diese Zahl reicht noch nicht aus, um die Dschihadisten zu besiegen.
Besonders harte Kämpfe erwartet
Hinzu kommt: Die Kämpfe um die nordirakische Stadt dürften außergewöhnlich heftig werden. Für Armee und Terroristen geht es gleichermaßen um sehr viel: Die Regierung will die zweitgrößte Stadt des Landes wieder unter ihre Kontrolle bringen. Und der IS will eine seiner letzten Bastionen im Irak halten. Zudem ist Mossul für den IS von hohem symbolischen Wert: "Wenn Mossul die Hauptstadt des Kalifats im Irak ist, kann man davon ausgehen, dass die IS-Kämpfer sie mit besonderer Härte verteidigen werden", sagt ein Pressesprecher der US-Streitkräfte in einem Agenturgespräch.
Zugleich fürchten viele Flüchtlinge aber auch die irakische Armee selbst. "Die Streitkräfte haben mein Telefon und mein Geld gestohlen, außerdem haben sie mir angedroht, mich zu töten", berichtet ein älterer Mann. Solche Berichte zirkulieren vielfach unter den Flüchtlingen. Sie verweisen auf die jüngere Vergangenheit der Armee. Zuerst gegängelt durch das Terrorregime Saddam Husseins und dann aufgerieben in einem jahrelangen Bürgerkrieg, betrachten viele schiitische Soldaten ihre sunnitischen Landsleute als Bürger zweiter Klasse.
Besonders misstrauisch zeigen sie sich den Bewohnern von Falludscha gegenüber, der ehemaligen Hochburg des IS. Aber auch den Bürgern von Mossul, die zwei Jahre unter den IS-Schergen lebten, trauen sie nicht. Seit Monaten bereits klagen Sunniten über das brutale Vorgehen schiitischer Kräfte, insbesondere jener, die nicht in das Militär eingebunden sind. Einige sunnitische Flüchtlinge behaupten darum, für sie sei die Präsenz irakischer Sicherheitskräfte bedrohlicher als die der Dschihadisten. "Die irakischen Sicherheitskräfte haben uns geschlagen und ausgelacht", berichtet ein Flüchtling aus Falludscha.
UN rechnet mit Versorgungsproblemen
Die 100.000 Flüchtlinge, in deren Schwarm die junge Mutter mit ihrer Familie die Stadt verlassen hat, dürften darum nur die erste Vorhut derer sein, die sich vor den Kämpfen demnächst in Sicherheit bringen werden. Die Vereinten Nationen rechnen mit bis zu einer Million Flüchtlingen - rund zwei Drittel der gesamten Einwohner der Stadt. "Wir wissen nicht, ob wir diese Herausforderung finanziell und logistisch bewältigen können", sagte Lise Grande, UN-Beauftragte für humanitäre Koordination im Irak, in einem Pressegespräch. Je nachdem, wie heftig die Zerstörungen durch die Kämpfe seien, könnten die Menschen für Monate oder womöglich eine noch längere Zeit nicht in die Stadt zurückkehren. "Wir sind zutiefst besorgt", so Grande.
Es wird erwartet, dass viele Flüchtlinge nach Norden, in Richtung der kurdischen Autonomiegebiete, wandern werden. Dort halten sich allerdings schon sehr viele Flüchtlinge auf. Rund eine Million Iraker haben dort bereits Schutz gesucht. Zudem versorgen die Kurden rund 250.000 weitere Menschen, die aus Syrien geflohen sind.
Hoffnung auf internationale Hilfe
Sie tun das trotz der Sorge, dass sich unter die Flüchtlinge auch IS-Kämpfer gemischt haben könnten. So wie die irakische Armee nach der Einnahme von Falludscha über 20.000 männliche Flüchtlinge kontrollierte, versuchen auch die Kurden zu verhindern, dass IS-Kämpfer in ihr Gebiet einsickern. Mehrere Festnahmen hat es bereits gegeben. Eine Reihe von Flüchtlingen klagt darüber, von den kurdischen Sicherheitskräften wie Kriminelle behandelt zu werden.
So wie syrische Flüchtlinge in den Irak geflohen sind, haben sich viele Iraker umgekehrt auf den Weg nach Syrien gemacht. Viele von ihnen haben Unterschlupf in dem von den Kurden geführten Flüchtlingslager der Stadt Al-Hol gefunden. Auch dort sieht man sich großen Schwierigkeiten gegenüber. "Wir helfen, haben allerdings keine Unterstützung von internationalen Organisationen", sagt ein Sprecher des Lagers gegenüber dem Internetmagazin Middle-East-Eye. Alles Notwendige – Schutz, Nahrung und Wasser werden derzeit lokal organisiert. Deswegen habe man bereits Büros in mehreren westlichen Hauptstädten eingerichtet, unter anderem auch in Berlin. Auch an Moskau hat die Lagerleitung sich gewandt.