Archäologischer Wettlauf mit der Zeit in Ägypten
23. Dezember 2018Gerade erst wurde in Sakkara nahe Kairo ein mehr als 4.000 Jahre altes, sehr gut erhaltenes Priestergrab des Hohepriesters "Wahtye" der Öffentlichkeit präsentiert. Im Juli hatten Forscher ebenfalls in Sakkara vergoldete Mumienmasken gefunden. Im Frühjahr wurde nahe dem Ort Minja am Nil eine mehr als 2500 Jahre alte Totenstadt mit Dutzenden Steinsärgen und Kunstschätzen entdeckt. Und im November stieß ein ägyptisch-deutsches Forscherteam im antiken Heliopolis – heute ein Armenviertel von Kairo – auf faszinierende Kalksteine mit Tausende Jahre alten Inschriften. Einige der Funde lassen sich auf die 12. und 20. Dynastie der Alten Ägypter zurückführen und sind damit bis zu etwa 4000 Jahre alt.
Deutsche Welle: Herr Dr. Raue, man vermutet ja, dass in Ägypten gerade in der Nähe der Pyramiden oder im Tal der Könige bereits fast alles erforscht ist. Wie ist es möglich, dass es trotzdem immer wieder spektakuläre Funde gibt?
Dietrich Raue: An den Pyramiden und im Tal der Könige ist längst noch nicht alles freigelegt und bearbeitet worden. Das gilt auch für die großen Friedhöfe wie in Sakkara. Über 3000 Jahre war es der Hauptfriedhof der Ägyptischen Hauptstadt Memphis. Dort lebten bis zu 50.000 Menschen, zeitweise wahrscheinlich sogar mehr. Wenn man die alten Karten aus dem 19. Jahrhundert betrachtet, erkennt man, dass es dort an vielen Stellen noch etwas freizulegen gäbe, wozu man aber einfach bisher noch nicht gekommen ist.
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Sie haben, gemeinsam mit Dr. Aiman Ashmawy vom Ägyptischen Antikenministerium, ein ägyptisch-deutsches Forscherteam geleitet, das im antiken Heliopolis ebenfalls interessante Funde gemacht hat. Was sprach für Heliopolis?
Flächenmäßig war der Tempel von Heliopolis der größte Ägyptens. Das Problem ist, dass er mitten in der Stadt liegt. Als die napoleonische Expedition zu Beginn des 19. Jahrhunderts dort Vermessungen vornahm, lag der Tempelbezirk noch weit von der Stadt entfernt, heute befindet er sich mittendrin.
Die ägyptische Bevölkerung wächst nun einmal jährlich um deutlich mehr als eine Million Menschen an. Dementsprechend ist der Bedarf an Baufläche und an infrastrukturellen Maßnahmen gewaltig. Weil dies natürlich auch die antiken Stätten gefährdet, führen wir mit unserem Team im Tempel von Heliopolis entsprechende Notgrabungen durch.
Es ist ein Wettlauf mit der Zeit und wir sind dankbar für die tatkräftige Unterstützung des Ägyptischen Antikenministeriums. Unser internationales Forscherteam besteht aus ägyptischen Archäologen und Restauratoren, Studierenden und Mitarbeitern der Universität Leipzig.
Unser Geophysiker kommt aus Polen, der Geomorphologe aus Belgien, der Zeichner aus Holland, die Archäobotanikerin kommt aus Ägypten, eine Archäozoologin aus Pakistan. Prof. Kai-Christian Bruhn von der Hochschule Mainz versorgt uns mit der nötigen Technik, damit wir die Funde auch unter großem Zeitdruck möglichst qualitativ hochwertig dokumentieren können.
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Welche Erkenntnisse konnte das Team aus den Funden ziehen?
Der Tempel von Heliopolis war die monumentale Ausdrucksform des ägyptischen Herrschergedankens: Er war der "Ort der Schöpfung". Um seinen Anspruch klar zu machen, musste der Herrscher von Ägypten an diesem Ort der Schöpfung präsent sein - mit Gebäuden, Obelisken, Tempeln, Umfassungsmauern und Infrastruktur.
Das ist jetzt nicht neu, das wusste man vorher auch schon. Nur ist dort einfach nicht systematisch gegraben worden, weil die steinernen Tempel bis zu drei Meter unter der aktuellen Oberfläche und bis zu drei Meter unter dem Grundwasser liegen. Diese Anlage ist durch die dichte Bebauung in Kairo nun in Gefahr und so versuchen wir mit unseren ägyptischen Kollegen was möglich ist, um so viel wie möglich zu bergen. Bekannt ist bisher nur, dass es diesen Ort gab, aber wie er aussah, das weiß man nicht.
Wieso wurde dieser bedeutsame Ort Heliopolis trotzdem zerstört?
Da jeder Herrscher an diesem Ort der Schöpfung präsent sein wollte, gab es dort eine riesige Anlage, die einfach nur das Pech hatte, zu dicht an den innerstädtischen Bereichen zu liegen. Da die Anlage nah an den großen Bauprojekten lag, finden wir in unseren Grabungen vor allem Basalt, Granit, Quarzit, weil der Kalkstein in der Regel abgetragen und sofort in der Fatimiden-Mauer, der Befestigungsmauer, im 11. Jahrhundert verbaut wurde.
Das Besondere dieser Grabung war, dass wir in einem Areal Kalkbrennöfen gefunden haben, in dem eigentlich Kalksteinblöcke verarbeitet werden sollten. Im vierten Jahrhundert vor Christus lagen diese Blöcke dort zur Verarbeitung bereit. Dazu kam es nicht mehr und so konnten wir diese Blöcke mit den besonderen Inschriften finden.
Könnten die spektakulären Funde dem für Ägypten so wichtigen Tourismus einen neuen Schub geben?
Ja, ich denke schon! Ich sehe das auch schon im Alltag auf der Straße. Wenn man vor fünf Jahren oder sechs Jahren sagte, dass man nach Ägypten fährt, da haben einen alle etwas seltsam angeguckt und gefragt, ob das nicht gefährlich sei. Wenn man das heute sagt, erntet man eher Anerkennung. Aufgrund der faszinierenden Funde überlegen viele offenbar, auch mal nach Ägypten zu reisen.
Der frühere Massentourismus hat vielen Ausgrabungen in Ägypten allerdings nicht gut getan, werden die jüngsten Fundorte trotzdem schon bald dem interessierten Publikum zugänglich gemacht?
Das hängt dann immer vom Objekt ab. Bestimmte Anlagen sind einfach zu klein, um da größere Gruppen reinzuführen. Aber bei einigen der Gräber, die im letzten Kalenderjahr entdeckt und freigelegt wurden, ist das durchaus denkbar. Die Gräber werden ja nicht sofort nach der Entdeckung für den Tourismus geöffnet. Zunächst finden da vorbereitende Maßnahmen statt, etwa ein genaues Zeitmanagement, damit die Gräber nicht durch den Tourismus beschädigt werden. Aber in der Zukunft können sie durchaus für Besucher offen stehen. Wenn ich zum Beispiel vergleiche, was ich 1977 bei meiner ersten Ägyptenreise ansehen konnte, etwa in Luxor, dann haben sich die Besichtigungsmöglichkeiten seitdem vervielfacht. Und das ist natürlich auch immer ein guter Grund, wieder nach Ägypten zu reisen.
Der Ägyptologe Dr. Dietrich Raue ist Kustos [wissenschaftlicher Mitarbeiter] am Ägyptischen Museum der Universität Leipzig.
Das Interview führte Alexander Freund.