Afghanistan: NATO-Experten reden Klartext
3. März 2023So deutlich hat noch niemand im Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages über den nach 20 Jahren gescheiterten Militäreinsatz in dem asiatischen Land gesprochen: "Das war dumm, diesen Kurs zu fahren", meint Stefano Pontecorvo. Der Italiener war bis zum überstürzten Abzug der internationalen Truppen im August 2021 Ziviler Repräsentant des Nordatlantischen Verteidigungsbündnisses (NATO) in Afghanistan.
Verfehlte Ziele: Demokratie und Menschenrechte
"Ich glaube nicht, dass man einen zivilgesellschaftlichen Ansatz verfolgen kann", sagt er rückblickend in einer Experten-Anhörung des Parlaments. Afghanistan sei ein Land, dass sich den von allen als löblich bezeichneten Zielen wie Demokratie und Menschenrechte nach westlichen Vorstellungen widersetze, glaubt Pontecorvo.
Er spricht in der fast fünfstündigen Anhörung von einer "Blase, die wir geschaffen haben". Ihr Name: Kabul. Die Kapitale Afghanistans mit ihren städtischen Eliten. "Denen ging es besser, weil wir da waren." Aber 60 Prozent der Bevölkerung lebe in ländlichen Regionen. "Denen ist es völlig egal, wer regiert", so Pontecorvo. Und als Mitte August 2021 der letzte unter internationaler Aufsicht gewählte Präsident Aschraf Ghani in die Vereinigten Arabischen Emirate floh, seien die staatlichen Institutionen zusammengebrochen.
"Wir sind teilweise blind"
Der ehemalige NATO-Sekretär für militärische Operationen, John Manza, hat dieses Szenario schon früh befürchtet. Man sei 2001 mit einer schlechten Strategie in die Afghanistan-Mission hineingegangen. "Wir sind teilweise blind durch unsere eigene kulturelle Voreingenommenheit", sagt der US-Amerikaner selbstkritisch.
Seine Lehre für künftige Auslandseinsätze: darauf achten, "dass sich eine Mission nicht langsam schleichend verändert". Man könne eine Gesellschaft nicht ändern, wenn es keinen politischen Willen dafür gebe. Wie viele andere Experten hält auch John Manza das 2020 zwischen der US-Regierung unter Präsident Donald Trump und den islamistischen Taliban geschlossene Doha-Abkommen für den entscheidenden Fehler.
Aschraf Ghani - eine Marionette der US-Amerikaner?
"Der Deal war außerordentlich schwach", sagt er im Untersuchungsausschuss des deutschen Parlaments. Durch den Ausschluss der afghanischen Regierung und der US-amerikanischen NATO-Verbündeten bei den Verhandlungen zum Doha-Abkommen habe sich bei den Taliban der Eindruck verstärkt, dass Präsident Ghani eine Marionette der USA sei.
So sieht es auch John Sopko. Als Sondergeneralinspekteur für den Wiederaufbau Afghanistans (SIGAR) verfasste sein Team seit 2008 für die US-Regierung regelmäßig Berichte über die Entwicklung in dem Land. Milliarden von Dollar seien in Bildung und Gesundheit investiert worden. "Aber das hat nicht zu einer wirklichen Unterstützung der Bevölkerung für ihre Regierung geführt", bilanziert er das Scheitern der Mission.
Korruption, Selbstüberschätzung, Verlogenheit
Das größte Problem aus seiner Sicht: Korruption. Zu viel Geld sei zu schnell in das Land geflossen. "Das hat die Korruption beschleunigt." Davon sei die afghanische Regierung völlig überfordert gewesen. Auf Nachfragen im Untersuchungsausschuss benennt John Sopko auch die seines Erachtens größten Fehler der internationalen Staatengemeinschaft: "Selbstüberschätzung und Verlogenheit."
Sein SIGAR-Kollege David Young nennt Details: Es habe an Wissen und Expertise gefehlt. Oft seien schlecht ausgebildete Kräfte nach Afghanistan entsandt worden. Die Versorgung mit militärischen Geräten, Nahrungsmitteln und Ersatzteilen sei über US-amerikanische Offizielle und Subunternehmer gelaufen.
Moderne Armee ohne Kampfkraft
"Wie kann es sein, dass wir 20 Jahre Streitkräfte aufgebaut haben, die abhängig waren von US-amerikanischen Quellen?", fragt sich David Young. Und John Sopko ergänzt: "Wir haben eine moderne Armee geschaffen und sie mit hochtechnologischen Waffen ausgestattet. Aber als die Unterstützung aus dem Ausland beendet wurde, konnten die Afghanen diese Systeme nicht aufrechterhalten."
Die beiden Experten sind sich aber einig, dass es auch kein besseres Ende der Militärmission und damit für Afghanistan insgesamt gegeben hätte, wenn die internationalen Truppen länger im Land geblieben wären. Ihr bitter klingendes Fazit: "Wir hatten nicht wirklich ein Verständnis für das Umfeld, in dem wir agierten."
Auch für Jörg Nürnberger, den Sprecher der sozialdemokratischen Fraktion im Ausschuss, sei der größte Fehler der US-Mission gewesen, dass Afghanistans Gegebenheiten nicht verstanden wurden und keine nachhaltige Strategie existierte. Seine Schlussfolgerung: "Die internationalen Partner und insbesondere Deutschland hätten deutlich enger eingebunden werden müssen. Daraus müssen wir für zukünftige Einsätze lernen und uns enger mit unseren Partnern abstimmen.“