Afghanistans Gesetzgebung und der Fall Rahman
25. März 2006Die Anklage des zum Christentum übergetretenen Afghanen Abdul Rahman hat die Menschen im Westen schockiert, bis in die höchsten Instanzen fordern gewählte Repräsentanten die Regierung in Kabul auf, eine Hinrichtung zu verhindern. Negative Konsequenzen wurden andernfalls in Aussicht gestellt. Die Sicherheitstruppen könnten zurückgezogen oder die Hilfsgelder für das kriegsversehrte Land am Hindukusch eingestellt werden.
Neue Ära oder fauler Kompromiss?
Das letzte Wort bzw. die letzte Unterschrift bei einer eventuellen Verurteilung von Abdul Rahman hat Präsident Hamid Karsai. Dessen Amtseinweihung im Jahre 2004 wurde von jenem Mann durchgeführt, der demnächst mächtig unter Druck stehen könnte – Fazl Hadi Schinwari ist der Oberste Richter des Landes und wurde gerade erst in seinem Amt bestätigt. Schinwari hat die meiste Zeit seines Lebens in Pakistan gelebt und an einer Koranschule gelehrt. Er ist bekannt für seine Abneigung weltlicher und westlicher Güter - so möchte er das Kabelfernsehen verbieten und die Scharia wieder einführen.
Schinwari steht zwar politisch in Opposition zu den Taliban, gehört aber ideologisch zu den konservativen Kräften im Land. Er soll Abdul Rab Rassul Sayaf nahe stehen, einem religiösen Fundamentalisten, der als Parlamentspräsident gegen den jetzigen Amtsinhaber Yonus Qanuni kandidiert hatte. Qanuni setzte sich dann als letzter Hoffnungsträger der einst mächtigen Pandscheri-Troika um den ermordeten Nordallianzführer Ahmad Schah Massud durch. Qanuni ist somit der einzig verbliebene Gegenspieler Karsais aus diesem Lager, nachdem Abdullah Abdullah als Außenminister Mitte März seinen Hut nehmen musste. Qanuni hat hier noch ein Wort mitzureden, das Parlament wird jedem Minister einzeln das Vertrauen aussprechen.
Gemeinsam ist Sayaf, Schinwari und Qanuni, dass sie alle zur "Vereinigten Front" gehörten, der Gruppe, die nach dem vorläufigen Sieg der Amerikaner über die Taliban als Nordallianz Kabul und alle wichtigen Posten in der Regierung besetzte.
Zugeständnisse an Fundamentalisten
Bei der Zusammensetzung des Kabinetts hatte Präsident Karsai neben der ethnischen, religiösen und sprachlichen Balance auch die Verdienste der Warlords und alten Mudschahidinführer in und um die siegreiche Nordallianz berücksichtigen müssen. Nach afghanischer Auffassung haben diese Kräfte große Verdienste am Heimatland geleistet, da sie im Dschihad, dem so genanngten heiligen Krieg gegen die Ungläubigen, Afghanistan befreiten.
Stark beleidigt und betroffen zeigten sich die so genannten heiligen Krieger, als Malalai Dschoya, eine Vertreterin der Provinz Farah, die Mudschahedin während der verfassungsgebenden Sitzung im Loya-Dschirga-Zelt, als Kriegsverbrecher bezeichnete. Dschoya wurde sofort als Kommunistin beschimpft und die konservativen Kräfte setzten eine Passage in die als modern und weltoffen gefeierte Verfassung, die praktisch alle anderen Gesetze entkräftet. Artikel 3 der afghanischen Verfassung lautet: "In Afghanistan darf kein Gesetz dem Glauben und den Bestimmungen der heiligen Religion des Islam widersprechen." Da die Grundlage des islamischen Rechts die Scharia ist, wird ein Abfall vom islamischen Glauben somit durch den Tod gesühnt.
Ausweg gesucht
Die schwache afghanische Regierung wird einen diplomatischen Ausweg suchen müssen, der viele Interessen berücksichtigt: Die konservativen Kräfte in den eigenen Reihen aber auch den Westen. Afghanistan ist mit seinen ethnischen Spannungen und der finanziellen Abhängigkeit vom Ausland in einer schwierigen Lage.
Die Staatsanwaltschaft in Kabul hat Zweifel an Abdul Rahmans geistiger Zurechnungsfähigkeit geäußert, diese Option könnte ein diplomatischer Ausweg sein und die Hinrichtung verhindert werden. In diesem Fall könnte Abdul Rahman nicht verurteilt werden und das Thema Religionsfreiheit wäre vom Tisch - zumindest vorläufig. (tao)