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Als "Bufdi" in einer Willkommensklasse

Sabine Kinkartz, Berlin7. Januar 2016

Obdachlosenhilfe, Seniorenheim, Naturschutz: 35.000 meist junge Menschen arbeiten in Deutschland als Bundesfreiwillige. Ab sofort werden sie auch in der Flüchtlingshilfe eingesetzt. Von Sabine Kinkartz, Berlin.

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Manuela Schwesig mit Schülern in der Leo-Lionni-Grundschule (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa/B. Pedersen

Obstsalat, so lautet an diesem Vormittag das Thema in der Sprachlernklasse 5/6 der Leo-Lionni-Grundschule in Berlin. Lehrerin Ina Orbitz sitzt mit zwölf Schülern in einem Stuhlkreis. Die Kinder sind zwischen zehn und elf Jahre alt. Ammar aus Syrien sitzt neben Mohammed aus dem Irak und Roj aus Albanien. Lehrerin Ina Orbitz hält Karten in der Hand, auf denen Obst abgebildet ist. "Was wollen wir in unseren Obstsalat tun?", fragt sie.

Fast alle Arme schnellen nach oben. Ammar darf der Lehrerin die Karte mit den Bananen aus der Hand nehmen und an die Tafel hängen. Dann soll er die Karte mit dem passenden Begriff zuordnen. Der Junge wählt "Der Apfel, die Äpfel". "Nein", rufen die anderen Kinder im Chor. Ammar guckt unschlüssig, muss aber nicht lange auf Hilfe warten. Sie kommt von Mohamed Rahal, der in der Grundschule seit Kurzem seinen Bundesfreiwilligendienst (BFD) absolviert und Lehrerin Orbitz in der Willkommensklasse mit Rat und Tat zur Seite steht.

10.000 zusätzliche Stellen

Der 22-Jährige hat palästinensische Eltern und spricht daher neben Deutsch auch fließend Arabisch. Zudem Englisch, Französisch und ein wenig Spanisch. Nachdem er Ammar erst auf Arabisch, dann auf Deutsch geholfen hat, dem Bild mit den Bananen die Karte mit den passenden Begriffen zuzuordnen, setzt er sich wieder in den Stuhlkreis. Dort hat inzwischen auch Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig Platz genommen. Sie ist in die Grundschule gekommen, um sich ein Bild davon zu machen, wie die Bundesfreiwilligen in der Flüchtlingshilfe angenommen werden.

Lehrerin Ina Orbitz in ihrer Klasse (Foto: DW/Sabine Kinkartz)
Lehrerin Orbitz in ihrer Klasse: Was kommt in den Obstsalat?Bild: DW/S. Kinkartz

Freiwilligendienste stehen hoch im Kurs: Rund 100.000 Menschen leisten in Deutschland derzeit ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ), ein Freiwilliges Ökologisches Jahr (FÖJ) oder einen Bundesfreiwilligendienst (BFD). Sie helfen in Kindertagesstätten, lesen älteren Menschen aus der Zeitung vor, begleiten behinderte Kinder in die Schule oder pflegen ein schützenswertes Biotop.

Zusätzlich stellt der Bund jetzt im Rahmen eines Sonderprogramms des Bundesfreiwilligendienstes neben den schon bestehenden 35.000 Plätzen bis zu 10.000 neue Bundesfreiwilligendienstplätze zur Verfügung - "mit Flüchtlingsbezug", wie es im Amtsdeutsch heißt. Das Programm ist bis Ende 2018 befristet und wird mit jährlich 50 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt finanziert. Freiwillige bekommen ein sogenanntes Taschengeld in Höhe von maximal 363 Euro. Dazu kommen je nach Einsatz Verpflegung, Dienstkleidung und Unterkunft.

Auch Flüchtlinge können "Bufdis" werden

Seit dem Start des Sonderprogramms Anfang Dezember haben 893 Freiwillige Vereinbarungen über einen BFD mit Flüchtlingsbezug unterschrieben - darunter sind auch 143 Asylberechtigte und Asylbewerber mit guter Bleibeperspektive. Die meisten stammen aus Syrien, Iran, Afghanistan und Irak.

Freiwilligendienst auch offen für Flüchtlinge

Wenn sie wollen, können Flüchtlinge ihren Dienst auch in den üblichen Bereichen wie der Altenhilfe oder im Sportverein leisten. "Ich halte es für sehr wichtig, dass sich auch Flüchtlinge als Freiwillige engagieren - das stärkt den sozialen Zusammenhalt, hilft auch bei der Integration und auch beim Erlernen unserer Sprache", sagt Familienministerin Schwesig.

Die Ministerin freut sich über das bereits jetzt rege Interesse an dem neuen Programm. Der Dienst sei "ein wichtiger Baustein für die nachhaltige Stärkung unserer Willkommenskultur". Das Engagement für Flüchtlinge werde damit genauso unterstützt wie das Engagement von Flüchtlingen, "die bei uns ein neues Zuhause finden wollen", so Schwesig.

Allein nicht zu bewältigen

"Bufdi" Mohamed Rahal ist in Deutschland zu Hause, sieht sich in der Willkommensklasse aber trotzdem am richtigen Platz. Der junge Mann will Lehrer werden und sammelt in der Schule nicht nur erste Erfahrungen, sondern kann sich seinen Dienst als Praktikum für die Fachhochschulreife anerkennen lassen. Von 8 Uhr bis 14 Uhr arbeitet er in der Klasse, anschließend im Hort. Lehrerin Ina Orbitz ist sehr froh, dass sie Mohamed Rahal an ihrer Seite hat. "Allein ist die Arbeit in so einer Sprachlernklasse gar nicht zu bewältigen", sagt sie.

Ministerin Schwesig (r.) in der Leo-Lionni-Grundschule (Foto: Getty Images)
Ministerin Schwesig (r.) in der Leo-Lionni-Grundschule: "Baustein für die Stärkung unserer Willkommenskultur"Bild: Getty Images/S. Gallup

Viele Kinder kämen aus Erstaufnahmelagern und seien nur vorübergehend in der Klasse, die Fluktuation sei hoch. "Was ich normalerweise zu Beginn eines Schuljahrs vermittle, kann ich hier in der Klasse praktisch jeden Tag aufs Neue ansetzen", berichtet sie. "Bufdi" Rahal unterstützt die Fachlehrerin aber nicht nur mit Sprachkenntnissen. Ina Orbitz ist froh, einen Mann mit einem "emanzipierten Weltbild" an ihrer Seite zu haben. Wertevermittlung sei ein sehr wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit, sagt sie. Mit zehn und elf Jahren kommen die Kinder in die Pubertät, da sei Rahal gerade bei der Erziehung der Jungen eine echte Hilfe.

Wie zur Bekräftigung toben in diesem Moment Fadi und Mohammed vorbei. Der eine hat den anderen im Schwitzkasten und versetzt ihm angedeutete Kopfnüsse. "So geht das ständig", seufzt Orbitz lächelnd. Dann ruft sie die Kinder wieder in den Stuhlkreis. Der Unterricht geht weiter, der Obstsalat ist schließlich noch nicht fertig.