Mächtige Trucker, ohnmächtiger Präsident
30. Mai 2018Zug um Zug erhalten Tankstellen und Supermärkte derzeit zum ersten Mal seit mehr als einer Woche Streik neue Lieferungen. In vielen Großstädten Brasiliens ist der öffentliche Transport jedoch weiter eingeschränkt, Buslinien verkehren nur mit reduzierter Flotte. Schulen und Universitäten bleiben vielerorts weiter geschlossen. Experten schätzen, dass erst am kommenden Wochenende die letzten Versorgungslücken geschlossen und das Leben wieder seinen normalen Gang gehen wird.
Noch streikt ein Teil der Trucker weiter, in 20 Teilstaaten gab es auch am Dienstag Blockaden und Proteste. An zehn Flughäfen fehlt immer noch Kerosin, dutzende Flüge mussten abgesagt werden. Den Streikenden gehe es längst nicht mehr um eine Reduzierung des Dieselpreises sowie um Steuererleichterungen für den Transportsektor. Ziel sei vielmehr der Sturz von Präsident Michel Temer und eine radikale Kurskorrektur beim halbstaatlichen Energiekonzern Petrobras, spekulieren Medien.
Der Erfolg des Streiks hat gezeigt, über welche politischen Machtmittel die Trucker verfügen. Und er hat gezeigt, wie abhängig Brasilien vom Transport über die Straßen ist. Investitionen in den Schienenverkehr wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter zurückgefahren. Die Verwundbarkeit der Regierung weckt nun auch Begehrlichkeiten bei anderen Interessensgruppen wie Taxifahrern und Motorrad-Kurieren.
Erfolglose Verhandlungen
Am Sonntag hatte die Regierung den Hauptforderungen der Trucker nachgegeben und eine Reduzierung des Dieselpreises um 46 Centavos über die nächsten 60 Tage angekündigt. Zudem soll eine Tabelle mit Mindestpreisen für Frachtfahrten verabschiedet sowie die Mautgebühren für Leerfahrten auf Null gesenkt werden. Noch stehen jedoch weitere Forderungen wie die Streichung der während des Streiks verhängten Bußgelder im Raum.
Die Autorität von Präsident Michel Temer und seiner ohnehin unpopulären Regierung ist durch den Streik noch weiter untergraben worden. So soll die Regierung zwar Tage vor dem Streik von den bevorstehenden Protesten erfahren, diese jedoch ignoriert haben. Erst am vierten Streiktag, dem letzten Donnerstag, hatte es ernsthafte Verhandlungen mit Gewerkschaftsvertretern gegeben. Der am Donnerstagabend verkündeten Einigung fühlten sich die meisten Streikenden jedoch nicht verpflichtet.
Spannungen mit dem Militär
Temer reagierte verärgert. Am Freitag wies er das Militär zur Räumung der blockierten Straßen an. Doch die Armee beschränkte ihre Aktivitäten darauf, Tanklaster auf ihrem Weg aus den Treibstofflagern heraus zu eskortieren. Die Regierung könne nicht mehr auf die volle Loyalität des Militärs setzen, spekulieren Medien. Längst sei die Unzufriedenheit mit der Regierung auch innerhalb der Truppe groß. Schon Temers überhastete Entscheidung von Februar, Rio de Janeiros angeschlagenen Sicherheitsapparat dem Militär zu unterstellen, ist in den Kasernen auf wenig Gegenliebe gestoßen.
Die Probleme des Präsidenten sind mit dem Abklingen des Truckerstreiks nicht beendet. Nun drohen Brasiliens Ölarbeiter mit einem 72-stündigen Warnstreik. Sie fordern nicht nur Preissenkungen für Benzin und Kochgas, sondern auch die Abkehr von sämtlichen Privatisierungsplänen des Mineralölkonzerns Petrobras.
Der Konzern ist durch den Streik und Temers Zusage, die Dieselpreise wieder zu kontrollieren, schwer angeschlagen. Seit Beginn des Streiks verlor Petrobras ein Drittel seines Marktwertes, umgerechnet rund 30 Milliarden Euros. Auch die brasilianische Börse in São Paulo wurde dadurch nach einem monatelangen Höhenflug nach unten gezogen.
Regierung Temer isoliert
Die Reform der Petrobras galt nach demKorruptionsskandal "Lava Jato", der zur Amtsenthebung von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff führte, als einer der wenigen Erfolge der Regierung Temer. Nun droht auch dieser zu zerfallen. Griffe der Präsident nun auch noch in die Preisgestaltung bei den Mautgebühren ein, würde er auch hier private Investoren verschrecken. Dabei braucht Brasilien angesichts leerer Staatskassen unbedingt privates Kapital für die Sanierung der maroden Infrastruktur.
Temer ist derweil politisch vollkommen isoliert, seine Basis im Kongress zerfällt zusehends. Vier Monate vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober gehen auch einstige Verbündete wie Parlamentspräsident Rodrigo Maia auf Distanz. Maia kündigte an, dass er die von der Regierung geplanten Steuererhöhungen nicht mittragen werde. Diese sollen die durch die Zusagen an die Trucker in den Staatshaushalt gerissenen Löcher stopfen. Sollten die von der Regierung gemachten Zusagen jedoch nicht vom Kongress umgesetzt werden, droht erneut Chaos.