Brexit-Tagebuch 21: Minister zügellos
12. Dezember 2017Am Montagmorgen hat David Davis im Londoner Talk-Radio LBC das große Geheimnis der Brexit-Verhandlungen gelüftet. Was braucht man so für Eigenschaften, fragt der Moderator ganz unschuldig, um Brexit-Minister zu werden? "Ach", sagt Davis, "man muss nicht schlau sein, man muss auch nicht so viele Details wissen, man muss bei den Verhandlungen nur immer cool bleiben". Das erklärt quasi alles. Warum die Scheidungsgespräche in Brüssel acht Monate dauerten, warum es unterwegs zehn rote Linien und zehn Kehrtwenden gab, warum immer noch niemand die Sache mit der irischen Grenze versteht und warum David Davis sich am Sonntagfrüh in der BBC Polit-Talkshow wieder um Kopf und Kragen geredet hat.
Die Angleichung der Karotten
TV-Gastgeber Andrew Marr gab sein Bestes, um zu verstehen was David Davis und Theresa May in der vergangenen Woche mit der EU vereinbart haben. Es geht um Irland und die Vermeidung einer harten Grenze quer durch die Insel nach dem Brexit. Großbritannien werde die volle Angleichung mit allen Regeln des Binnenmarkts und der Zollunion beibehalten, wird da versprochen. Damit würden Grenzkontrollen an den bislang unsichtbaren Übergängen zwischen Nordirland und der Republik Irland überflüssig. Alles könnte weitergehen wie bisher.
Aber wolle die Regierung nicht aus Binnenmarkt und Zollunion austreten, fragt Marr seinen Gast. Selbstverständlich, bestätigt Davis, schließlich gehe es darum, die Kontrolle zurück zu bekommen. Aber wie müsse man sich dann die Angleichung der Regeln vorstellen? "Werden unsere Karotten einfach sein wie ihre Karotten?", fragt der Interviewer. "Nein", sagt Davis darauf, "nicht die gleichen Karotten, wir werden ihre Regeln nicht behalten, es geht um Standards für Produkte". Also gleiche oder andere Karotten? Am Ende war jeder Rest von Verständnis dahin.
Aber weil der Brexit-Minister schon mal dabei war, und sich inzwischen in seinem Sessel entspannt hatte, klärte er gleich noch eine weitere Frage. Die versprochenen Milliarden für die Austrittsrechnung, die Zusagen bei den Bürgerrechten und der irischen Grenze, überhaupt die ganze Scheidungsvereinbarung hänge davon ab, ob Großbritannien Ende nächsten Jahres eine gute Handelsvereinbarung bekommt. "Wenn es keinen Deal gibt, zahlen wir das Geld nicht", erklärte Davis. Er meint, dass alles nicht so gemeint war.
Das Imperium schlägt zurück
In Brüssel war zu hören, wie den Verhandlungspartnern kleine Wutschreie entwichen. Wozu hatte man Theresa May ein Mittagessen am Montag, dann drei Tage Zeit und am Freitag noch ein Frühstück ausgegeben, um die Scheidungs-Gespräche endlich über die entscheidende Hürde zu bringen, wenn dann alles wieder nicht so gemeint war?
Kommissionssprecher Margaritis Schinas versuchte noch, die britische Regierung bei der Ehre zu packen. Die Scheidungsvereinbarung sei ein "Gentlemen's agreement", auf das Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Premierministerin Theresa May die Hände geschüttelt hätten. Aber wie der Kommentar zum Völkerrecht erklärt, versteht man darunter "Vereinbarungen zwischen Staatsmännern oder Diplomaten, die nur diese persönlich binden, nicht aber die von diesen vertretenen Staaten". Der Brexit-Minister hätte also Recht gehabt und Theresa May könnte frei nach dem Satz "was kümmert mich mein dummes Geschwätz von gestern" im nächsten Jahr die ganze Scheidungsvereinbarung in die Tonne treten.
Für solche Fälle aber hat die EU Juristen. Die schrieben flugs in die Vorlage für das anstehende Gipfeltreffen, bei dem das Ganze abgesegnet werden soll, einen neuen Passus rein: "Die Verhandlungen können in Phase II nur fortgeführt werden, so lange alle Verpflichtungen aus Phase I in ganzem Umfang respektiert und so schnell wie möglich getreu in rechtsverbindliche Formulierungen umgewandelt werden". Das Imperium lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen, sondern schlägt zurück.
Wo sind die Studien über die Brexit-Folgen?
Seit vielen Wochen verlangt der Brexit-Ausschuss im britischen Parlament von der Regierung, die Studien über die wirtschaftlichen Folgen des EU-Austritts zu veröffentlichen. Die seien in aller Sorgfalt über 56 Sektoren und hunderte von Seiten hinweg erstellt worden, hatte David Davis im Herbst im Unterhaus erklärt. Die Abgeordneten wollen sie lesen, der Minister lehnt das ab. Schließlich gelingt es mit Hilfe einer Vorschrift aus dem 18. Jahrhundert, die Regierung zur Herausgabe zu zwingen. Wir können das nicht veröffentlichen, erwidert diese, das würde unsere Verhandlungsposition unterminieren. Die Rede ist von einem Leseraum mit Handyverbot, so geheim sind die Studien.
Schließlich wird Davis in den Brexit-Ausschuss eingeladen. Der Vorsitzende guckt streng und verlangt die Studien. Der Minister windet sich.
"Hat die Regierung überhaupt eine Untersuchung über die Brexit-Folgen durchgeführt?", fragt Hilary Benn.
"Ahem, nein", antwortet Davis.
"Gibt es eine Untersuchung über den Automobil-Sektor?", fragt der Vorsitzende.
"Nicht das ich wüsste."
"Gibt es eine Studie zur Luftfahrt?"
"Nein …"
"Über Finanzdienstleistungen?"
"Ich kann das generell verneinen."
Der Ausschuss schnappt nach Luft. Die Studien, über die wochenlang gestritten worden war, die soll es auf einmal gar nicht geben?
"Ist es nicht merkwürdig, dass eine Regierung die so viele Folgen-Abschätzungen machen lässt, es bei diesen grundlegenden Veränderungen durch den Brexit nicht tut?" fragt der Vorsitzende, um Fassung ringend.
Man habe ja irgendwie Analysen der Wirtschaftsbereiche gemacht, um mögliche Hürden bei der Regulierung zu verstehen, antwortet David Davis. Aber abgesehen davon: "Ich bin kein Freund von ökonomischen Modellen, weil sie sich alle als falsch heraus gestellt haben." Genau. Wenn man an den Brexit glaubt, braucht man ihn auch nicht zu untersuchen. Es ist wie bei den Kindern, die an den Weihnachtsmann glauben. Die bekommen ja auch Geschenke.
O du fröhliche…
Es war Theresa May's erster Auftritt im Parlament nach der Einigung von Brüssel und in London war schon der Weihnachtsfrieden ausgebrochen. Brexiteers lobten das Ergebnis in ebenso schleimigen Tönen wie eigentlich kritische Abgeordnete. "Das ist eine gute Nachricht für die Anhänger des Brexit, weil sie besorgt waren, wir würden in den Verhandlungen stecken bleiben. Und es ist gut für die Brexit-Gegner, die Angst hatten wir würden ohne Deal aus der EU raus stürzen", freute sich die Premierministerin, "es gibt einen neuen Optimismus". Im Hintergrund jubilierten Engelschöre. In der nächsten Woche aber wird Theresa May zum ersten Mal mit ihrem Kabinett darüber sprechen, was für einen Brexit die Regierung eigentlich will. Dann wird es schnell vorbei sein mit der vorweihnachtlichen Harmonie.
Keine Briefmarke zum Brexit
Die Königliche Post will zum Brexit im Frühjahr 2019 keine Sonder-Briefmarke herausgeben. Das ist schade, es wird doch so ein ur-britisches Ereignis. Wie die Schlacht von Trafalgar, nur vielleicht weniger siegreich.