Brexiteers träumen von "Kanada plus Kuchen"
19. Dezember 2017Boris Johnson ist der große, böse Bär des Brexit. Er war bedrohlich ruhig während Theresa Mays fieberhaften Verhandlungen in Brüssel und sah davon ab, sie zu jagen. Aber die Schonzeit ist wohl vorbei, nachdem sie die EU-Regierungen davon überzeugen konnte, dass hinreichender Fortschritt erreicht sei und die Verhandlungen weiter gehen sollten. "Der Brexit darf uns nicht zu einem Vasallenstaat machen", brüllte Bär Boris, um Großbritanniens künftigen Platz in der Welt zu beschreiben. Das ist eine explosive Formulierung - sie stammt vom Abgeordneten Jacob Ress-Mogg, der für ältere Geschichte schwärmt. Man werde wie "eine Kolonie, ein Untertan" sein, wenn man etwa nach dem Brexit weiter die Regeln der EU befolgen wolle.
Nüchtern betrachtet aber beginnen im neuen Jahr zunächst die Gespräche über die Bedingungen für die Übergangsphase. Das ist die Zeit zwischen dem Brexit am 29.März 2019 und Anfang 2021. Großbritannien wird dann für die EU ein Drittstaat sein, wie die Türkei oder Albanien. Das Angebot für einen Übergang nun bedeutet, dass der Status quo vor dem Austritt noch für rund zwei Jahre erhalten bleibt, quasi eingefroren wird. Die Briten müssten während dessen alle Regeln einhalten und neue Gesetze, wie auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs respektieren. Sie müssten ihren Beitrag in die EU-Kasse einzahlen, würden allerdings ihren Sitz und ihre Stimme in Brüssel verlieren. Wie war das mit dem Vasallenstaat?
Theresa May sagte nun ihrem Brexit-Kabinett am Montag, dass man in der Übergangsphase bereits die gemeinsame Fischerei- und Agrarpolitik verlassen wolle. Das wird der nächste Kampf im neuen Jahr, weil so etwas nicht im Angebot der EU steht. Es wird wohl wieder Monate dauern, bis die Premierministerin und ihre Brexiteers die nackte Realität der Übergangsphase verstehen werden.
Der Traum von "Kanada plus Kuchen"
Theresa May wies in London auch die Behauptung von EU-Chefverhandler Michel Barnier zurück, es werde keinen maßgeschneiderten Brexit für Großbritannien geben. Es scheint schwierig, den Vorstellungen der Brexiteers über ein künftiges Handelsabkommen eine Dosis Realitätssinn zu injizieren. Die Gespräche darüber werden im Frühjahr beginnen. Aber der große Brexit-Schummel geht unterdessen weiter. Weder die Regierungschefin in London noch ihre Minister sagen der Bevölkerung die Wahrheit über die echten Möglichkeiten. Stattdessen unterhalten sie eine Traumfabrik in bester Hollywood Tradition.
"Die Regierung muss die Vorteile des Brexit maximieren", fordert Boris. Diese Vorteile sind allerdings so geheim, dass vor dem ersten Treffen des gesamten Kabinetts zu diesem Thema am Dienstag keine Papiere verteilt wurden. Einzelheiten könnten rauskommen und die Presse und die Bürger beunruhigen. Das erinnert an das Schicksal der Studien zu den Brexit-Folgen. Sie seien unglaublich detailliert, hatte Minister David Davis im Parlament zunächst erklärt. Nur verschwanden sie kurz darauf völlig und sollen tatsächlich nie existiert haben. Sonderbar.
Davis ist auch der führende Träumer, was einen Brexit-Deal "Kanada plus, plus, plus" angeht. Er möchte Zugang zum Binnenmarkt für Waren, aber auch für Dienstleistungen, den Finanzsektor, Kultur und einfach alles. Er scheint zu glauben, dass die EU dem Königreich einfach aus der Güte ihres Herzens heraus alles geben wird. Dass sie den Briten die europäischen Wohltaten samt Kuchen auf dem Silbertablett und umsonst anbietet. Wie wahrscheinlich ist das denn?
Das Angebot heißt "Canada dry"
Die Illusionen würden schneller platzen, wenn die Premierministerin und ihre Brexiteers der deutschen Bundeskanzlerin oder Michel Barnier zuhörten. "Sie [die Briten] müssen verstehen", schrieb er im Magazin "Prospekt", "dass es kein Rosinenpicken gibt". Das hatte der Franzose bereits gesagt und wiederholt es auch gern noch hundertfünfzig Mal. "Wir werden die verschiedenen Szenarien nicht vermischen, um britischen Wünschen entgegen zu kommen. Also etwa das Norwegen-Modell, als Mitglied des Binnenmarktes, mit den einfacheren Anforderungen des kanadischen Modells verbinden. Auf keinen Fall!"
Welchen Teil von "Es gibt keinen maßgeschneiderten Deal und kein Rosinenpicken" können die Brexiteers denn nicht verstehen? Wenn Theresa May und ihre Regierung wissen wollen, wie ein künftiges Handelsabkommen mit der EU aussehen kann, sollten sie einfach glauben, was Michel Barnier sagt. Aber das würde vermutlich die süßen Träume stören.
Eine Mehrheit gegen den Brexit?
Eine Umfrage in der vorigen Woche kam zu dem Ergebnis, das es zum ersten Mal seit dem Referendum bei den Briten eine Mehrheit gegen den Brexit geben könnte. Der "Independent" hatte sie in Auftrag gegeben und vermeldete zehn Prozentpunkte Vorsprung der EU-Anhänger. Besonders deutsche Zeitungen verbreiteten diese Meldung. Obwohl die Deutschen wie auch die Bundeskanzlerin vom Brexit normalerweise ziemlich ungerührt erscheinen, sieht es doch aus, als ob die Hoffnung zuletzt stürbe.
Eine Abstimmung und Todesdrohungen
In der vorigen Woche erlitt Theresa May eine Schlappe. Ein Handvoll Rebellen unter den Tories, die glauben, der Slogan "Holt die Kontrolle zurück" müsse sich auch auf das Parlament in London beziehen, stimmten gemeinsam mit der Opposition die Regierung nieder. Das heißt, sie erzwangen eine Abstimmung im Unterhaus, nachdem der Umriss eines Handelsabkommens mit der EU im Herbst nächsten Jahres fertig sein wird. Das ist natürlich nur begrenzt nützlich, denn sollte das Parlament den Deal aus Brüssel tatsächlich ablehnen, reicht die Zeit nicht mehr für Neuverhandlungen. Dann drohte ersatzweise nur noch der Sturz von der Brexit-Klippe.
Dennoch: Es wird eine solche Abstimmung geben. Die Zeitung "Daily Mail" veröffentlichte flugs die Fotos und Namen der sogenannten Rebellen und die erhielten umgehend Beschimpfungen und Todesdrohungen über die sozialen Medien. Die schlimmsten gaben die Abgeordneten an die Polizei weiter. "Die Atomsphäre ist so aufgeheizt", schrieb MP Dominic Grieve im "Guardian", "dass erstens die Leute nicht zuhören, worum die Debatte überhaupt geht. Dann werden alle Fragen zum Brexit als versuchte Sabotage betrachtet und schließlich endet das Ganze in Morddrohungen". Irgendwie erscheint Brexit-Britain nicht sonderlich attraktiv.
Wer den Schaden hat...
Der ehemalige Ukip-Vorsitzende Nigel Farage, inzwischen auch Trump-Liebling und Radio-Moderator, ist stolz auf seine Rolle als Vater des Brexit. In der vorigen Woche aber entblößte er seine Seele in einem Interview mit der Zeitung "Daily Mail". Er zahle einen hohen persönlichen Preis für seinen politischen Erfolg, klagte Farage sein Leid. Er könne nicht allein die Straße entlang gehen, aus Angst, angegriffen zu werden. Und er fasste seine ganzen Probleme in dem knackigen Satz zusammen: "Ich bin 53, getrennt und pleite".
Wer diese Art von Schaden öffentlich macht, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Wie kann er nur überleben, mit seinen über 100.000 Euro Gehalt vom Europaparlament und seinem vier Millionen teuren Haus in Chelsea, spotteten seine Gegner. Andere merkten an, dass er für seine 53 Jahre ziemlich alt aussehe, einen neuen Haarschnitt und bessere Klamotten brauche. Auch gab es das Angebot für ein One-Way Ticket in die USA oder die Hauptrolle in einem Musical namens "Brexit", ein sicheres Erfolgskonzept. Anders als seine sieben gescheiterten Versuche, ins britische Parlament einzuziehen. Und in punkto Privatleben analysierten die Leser kühl, dass seine Frau sich wohl nicht wegen des Brexit, sondern seiner Affäre mit einer jungen Assistentin von ihm getrennt habe. Das alles zeigt einen echten Mangel an Mitgefühl.
Und was sagte Farage noch gleich über die sogenannten Tory-Rebellen: "Meine Verachtung für Karriere-Politiker kennt keine Grenzen". Und das nach 18 Jahren im Europaparlament. Der Mann sollte mal in den Spiegel gucken.
Weihnachten heißt Weihnachten
"Brexit heißt Brexit" war einer der bedeutendsten Sätze von Theresa May im abgelaufenen Jahr. In diesem Sinne stellt das Tagebuch fest: "Weihnachten heißt Weihnachten" und macht Pause bis zur nächsten Sitzungsrunde im Januar 2018.