Brumadinho, ein Jahr später
25. Januar 2020Wenn sich an diesem Samstag die Katastrophe von Brumadinho jährt, will Helena Taliberti im Zentrum von São Paulo, der größten Stadt Brasiliens, eine Gedenkveranstaltung anführen. "Für mich ist immer noch der 25. Januar 2019. Während des letzten Jahres habe ich gedacht, dass es besser wird, aber der Schmerz ist immer noch immens - besonders auch, weil wir wissen, dass das hätte vermieden werden können", sagt die 62-Jährige im Gespräch mit der DW.
Innerhalb weniger Augenblicke wurde an dem Freitagmorgen Anfang 2019 nahezu ihre ganze Familie ausgelöscht. Ihre Tochter Camila (33), ihr Sohn Luiz (31) und dessen im fünften Monat schwangere Frau sowie ihr Ex-Mann und dessen neue Ehefrau waren in einem kleinen Hotel in Brumadinho abgestiegen, um das nahegelegene Freilicht-Museum Inhotim zu besuchen. Als der Damm des Abraumbeckens der Eisenerzmine Córrego do Feijão brach, ergossen sich 13 Millionen Kubikmeter Schlamm durch das Tal.
Vermutlich 270 Menschen wurden unter der meterhohen Welle begraben, darunter Mitarbeiter des Bergbaukonzerns Vale und viele Anwohner. Die Leiche von Helenas Sohn Luiz fanden die Hilfskräfte nach vier Tagen, zwei Tage später die von Camila und ihrem Vater. Luiz' Frau Fernanda wurde nach 22 Tagen gefunden. Die Stiefmutter gehört zu den elf Vermissten, nach denen die Hilfskräfte immer noch suchen. Weder der Bergbaukonzern Vale noch die Behörden hätten sich jemals bei ihr gemeldet, so Taliberti.
Das überhörte Warnsignal
Der Schock saß in ganz Brasilien damals tief - besonders weil die Menschen die Bilder von tödlichen Schlammmassen schon kannten. Drei Jahre zuvor war 120 Kilometer von Brumadinho entfernt der Damm einer Eisenerzmine gebrochen. Damals starben 19 Menschen nahe der Stadt Mariana, tausende wurden obdachlos, und die Flüsse der Region, darunter der Rio Doce, wurden verseucht.
Vale, deren Tochterfirma Samarco der Damm in Mariana gehörte, versprach eine rasche Abfindung der Opfer sowie den Wiederaufbau der Region. Doch trotz aller Bekundungen, dass sich eine derartige Katastrophe nicht wiederholen dürfe, passierte das Undenkbare erneut. "Für uns ist Mariana im Nachhinein so eine Art Warnsignal für Brumadinho gewesen, das leider nicht gehört wurde", sagt Helena Taliberti.
Die Bergbauexpertin Susanne Friess von der deutschen Hilfsorganisation Misereor hatte Brumadinho zwei Monate vor dem Dammbruch besucht. Das Hilfswerk unterhält in der mit Bergwerken durchzogenen Region zahlreiche Projekte mit den Schwerpunkten Soziales und Umweltschutz. "Leute aus der Gemeinde berichteten mir damals, wie sie versuchten, die Wasserquellen zu schützen und die Ausweitung der Minen zu verhindern", sagt Friess im Gespräch mit der DW. "Und sie waren besorgt, dass sich so etwas wie der Dammbruch in Mariana wiederholen könnte."
Klage gegen TÜV Süd
Anfang dieser Woche erhob die Staatsanwaltschaft des Teilstaates Minas Gerais nun gegen elf Vale-Manager sowie fünf Mitarbeiter des deutschen Zertifizierers TÜV Süd Anklage wegen Totschlags. Man habe die Instabilität des Dammes in Brumadinho bewusst verschwiegen, argumentieren die Ermittler, die zudem eine geheime Liste der Vale mit zehn besonders instabilen Dämmen entdeckt hatten.
Für Susanne Friess der Beweis, dass die Katastrophen von Mariana und Brumadinho einen ähnlichen Ursprung haben. "In beiden Fällen wusste das Unternehmen genau was los war, und in beiden Fällen haben sie nichts gemacht. Deshalb ist meine Lesart, dass sie nichts aus Mariana gelernt haben."
Hoffnung mache ihr jedoch die Justiz, so Friess. Im persönlichen Gesprächen mit Vertretern der Staatsanwaltschaft habe sie den Eindruck gewonnen, dass man die Fehler von Mariana in Brumadinho vermeiden will. Vier Jahre nach Mariana herrsche dort ein Chaos um Verantwortlichkeiten und Entschädigungen, das kaum noch aufzulösen sei. Selbst die Behörden hätten den Fall praktisch abgehakt und bündelten stattdessen "alle Power auf Brumadinho".
Tickende Zeitbomben
Mulmig wird Friess mit Blick auf weitere mögliche Katastrophen. Rund 770 ähnlich gebaute Dämme gibt es in ganz Brasilien. "So wie die gebaut wurden und wie sie kontrolliert werden, sind das tickende Zeitbomben. Man könnte sie entschärfen, wenn der politische Wille dazu da wäre", sagt die Expertin. "Man könnte sie stilllegen und stabilisieren und damit das Ticken zumindest in die Länge ziehen."
Nach Medienberichten sind derzeit 55 Dämme ohne gültige Zertifizierung, 41 Dämme sind wegen der Risikolage gesperrt. "Für die Leute, die dort leben, ist das ein Drama, weil sie überhaupt nicht einschätzen können, wie sicher oder unsicher die Lage ist", so Friess. "Auf die Behörden konnten sie sich nicht verlassen, auf die Zertifizierer und auf die Bergbaukonzerne auch nicht. Die Frage ist: Wer gibt einem da eigentlich ein Gefühl von Sicherheit?"
Geht es nach Brasiliens Regierung, soll der Bergbau weiter ausgebaut werden, auch in die bisher weitestgehend unberührte Amazonasregion hinein. Angesichts von Milliarden Kubikmetern an neuem Abraum ist das ein "Horrorszenario" für Susanne Friess. "Ich glaube nicht, dass Bergbau nachhaltig sein kann, das ist nun einmal ein Widerspruch." Es gehe darum, das Schlimmste zu verhindern. Allerdings hat Präsident Jair Messias Bolsonaro bisher eher den Umweltschutz und Sicherheitsauflagen zurückgefahren statt auszubauen. "Die Machtkonstellationen sind derzeit nicht sehr günstig", sagt Susanne Friess.