Bundestag nähert sich der Impfpflicht an
26. Januar 2022Sie ist hoch umstritten, komplex. Für viele ist sie der Weg aus der Pandemie, für andere eine Freiheitsberaubung: eine allgemeine staatliche Pflicht, sich gegen das Coronavirus impfen zu lassen. Tatsächlich gibt es sie bislang nur in wenigen Staaten. In Europa etwa hat lediglich Österreich sich schon endgültig dafür entschieden. Die Regel soll dort ab dem 1. Februar greifen. In Deutschland wurde bisher nur beschlossen, dass ab Mitte März eine Impfpflicht für Beschäftige in Gesundheitseinrichtungen wie Krankenhäusern oder Pflegeheimen gelten soll.
Aber auch eine allgemeine Impfpflicht könnte in Deutschland eingeführt werden, falls der Bundestag das beschließt. Am Mittwoch hat das Parlament erstmals darüber diskutiert - in einer Orientierungs-Debatte, ohne Beschluss also. Ein Meinungsbild.
Bärbel Bas: "Die Menschen erwarten von uns Orientierung"
Voll ist es im Plenarsaal, zumindest zu Anfang der Vier-Stunden-Debatte. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) ist da, Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne), Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD).
Die Stimmung ist gereizt, vor dem Bundestag gibt es Proteste, Hubschrauber fliegen ratternd über dem Gebäude.
Zu Beginn mahnt Parlamentspräsidentin Bärbel Bas (SPD) zur sachlichen Debatte. Die Menschen seien von Corona erschöpft, sagt sie und mahnt: "Bedenken wir dabei, dass die Menschen in dieser angespannten Zeit von uns vor allem Orientierung erwarten."
Impfquote ist zu gering
Lange Zeit seit Beginn der Corona-Krise hatten die meisten Politiker in Deutschland eine Impfpflicht ausgeschlossen, mittlerweile ist die neue Regierung unter Bundeskanzler Scholz dafür. Freiwillig lassen sich bisher nicht genug Bürger impfen, die Quote lag am Mittwoch bei 73,6 Prozent (vollständig Geimpfte).
Das Problem: Nicht alle Abgeordneten von SPD, Grünen und FDP sehen das so. Eine eigene Mehrheit im Parlament in dieser Frage ist der neuen Regierung, erst seit Dezember im Amt, keineswegs sicher.
Kritik am Zögern der Regierung
Deshalb hat die Regierung vorgeschlagen, dass die Abgeordneten vom so genannten Fraktionszwang befreit werden und sich in Partei-übergreifenden Gruppen für oder gegen eine Impfpflicht sammeln sollen. Einen eigenen Antrag bringen die Regierungsfraktionen also nicht ein.
Der CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge rügt das: "Ich hätte mir gewünscht, dass wir bei der Frage, wie wir diese Debatte führen, zumindest einen Entwurf gehabt hätten. Das ist leider nicht passiert." Andrea Lindholz von der CSU sagt noch schärfer, die Regierung verweigere hier die Arbeit.
Gruppenanträge im Bundestag: Wie funktioniert das?
Fraktionszwang? Befreiung davon? Natürlich ist jede Abgeordnete, jeder Abgeordnete frei in allen Entscheidungen. Aber bei den meisten Abstimmungen wird erwartet, dass sich die Fraktionen an die Pläne der Führung halten. Das geschieht auch meist.
Aber es gab im Bundestag schon oft Fragen, bei denen dieser informelle Druck von vornherein beseitigt wurde. Die Abgeordneten wurden offiziell ermuntert, offen zu diskutieren, Verbündete für die eigene Position auch in anderen Fraktionen zu suchen. Das war so etwa bei Abstimmungen über Themen wie der Sterbehilfe oder beim Thema Schwangerschaftsabbrüche - bei Gewissensfragen also. Es bilden sich Gruppen. Ganz am Ende stellt sich heraus, welcher Gruppenantrag eine Mehrheit findet.
AfD greift andere Fraktionen an
Drei solcher Gruppen zeichnen sich derzeit im Bundestag ab. Ein unübersichtliches Bild. Noch dazu ist die Fraktion der "Alternative für Deutschland" (AfD) kategorisch nicht nur gegen eine Impfpflicht, sondern auch gegen alle Corona-Beschränkungen.
Partei- und Fraktionschef Tino Chrupalla teilt heftig aus gegen alle anderen Parteien: "Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem Impfstoffe schon fast eine religiöse Stellung erhalten. Sie sollen das verbindende Element für alle Bürger sein, damit sie ein Teil der Gesellschaft sein dürfen." Die Impfpflicht, ein Spaltungs-Instrument für die Gesellschaft? Alice Weidel, die Fraktionschefin, spricht provokativ von einem "autoritären Amoklauf".
Wolfgang Kubicki: "Lebensrisiko wieder selbst tragen"
Auch die Gruppe, die Wolfgang Kubicki von der FDP, Vizepräsident des Bundestags, initiiert hat, ist gegen eine Impfpflicht. Aber aus ganz anderen Gründen. Kubicki betont, selbst geimpft zu sein.
Er bedankt sich bei den Entwicklern der Impfstoffe, erinnert aber daran, dass lange fast alle Parteien gegen eine Impfpflicht gewesen seien: "Der Gedanke dabei war grundlegend: Dass nämlich der staatliche Eingriff ab einem bestimmten Zeitpunkt enden muss, wenn alle ein Impf-Angebot erhalten haben. Und ein jeder das individuelle Lebensrisiko wieder selbst trägt."
Karl Lauterbach für eine Pflicht ab 18 Jahren
Zwei weitere Gruppen im Parlament befürworten eine Impfpflicht - und die meisten Abgeordneten am Rednerpult an diesem Mittwoch, so scheint es, tendieren zu einer dieser beiden Gruppen. Eine Gruppe will, dass sich alle Menschen ab 18 Jahren impfen lassen müssen.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach gehört zu dieser Gruppe, ebenso Bundeskanzler Olaf Scholz. Lauterbach mahnt zur Eile: Er sagt: "Wir kommen nicht weiter, indem wir das Problem von uns wegschieben. Wir brauchen für die Umsetzung der Impfpflicht mindestens fünf bis sechs Monate. Dass heißt: Wenn wir jetzt beschließen und umsetzen, dann sind wir im Herbst gerüstet." Dann also, wenn eine mögliche weitere Corona-Welle wieder zu einem Anstieg der Infektionen führen könnte.
Impfung für die Menschen ab 50 als Kompromiss?
Eine dritte Gruppe spricht sich für eine Pflicht zur Impfung für Menschen ab 50 Jahren aus. Paula Piechotta von den Grünen, eine Ärztin aus Leipzig in Sachsen, gehört dazu. Lassen sich die Menschen wirklich impfen, wenn die Pflicht kommt? Ist die zermürbende, aufpeitschende Debatte dann beendet, all der Streit? Piechotta: "Niemand kann sagen, ob wir wirklich einen befriedenden Effekt in allen Bundesländern haben werden und ob es nicht doch wieder Radikalisierungs-Tendenzen geben wird."
Die Impfpflicht für die besonders gefährdeten Menschen über 50, also eine Art Mittelweg, das ist Piechottas Vorschlag. Ziel ist, wie sie sagt, die Zumutung der Pandemie endlich zu beenden. Und die Gesellschaft nicht weiter zu spalten.
Wie es jetzt weitergeht
Falls aus allen Ideen und Vorschlägen am Ende ein Entwurf für eine allgemeine Impfpflicht eine Mehrheit bekommt, dann, so hieß es aus der Regierung, könne ein entsprechendes Gesetz bis Ende März verabschiedet werden.
Noch sind viele Details ungeklärt: Wie hoch wären die Bußgelder, wenn die Menschen sich nicht impfen lassen? Wie lange sollte die Pflicht gelten? Wie kann man das rechtlich sauber formulieren? Es wird ein mühsamer Weg, soviel steht fest.