Corona-Zahlen steigen - aber wen interessiert’s?
15. Juni 2022Sommer in Deutschland, das heißt: kein Gedanke mehr an Corona. Die meisten Beschränkungen sind aufgehoben, Menschen reisen wieder, gehen in Kneipen, Restaurants und Clubs. Es gibt Festivals, und so mancher scheint verlorene Zeit aufholen zu wollen. Tatsächlich aber sind die Fallzahlen und auch die Hospitalisierungsrate höher als im gleichen Zeitraum vor zwei Jahren. Trotzdem fühlt sich der dritte Pandemiesommer in Deutschland an wie vor der Pandemie: ganz normal.
Wie andere Länder auch registriert Deutschland jedoch eine Zunahme an Coronafällen, die durch die Untervariante BA.5 verursacht werden. Diese wird von der Weltgesundheitsorganisation WHO als "besorgniserregende Variante" eingestuft. Gesundheitsminister Karl Lauterbach spricht von einer "Sommerwelle" neuer Infektionen.
"Das ist leider Realität geworden", sagte er der Rheinischen Post. "Das bedeutet auch für die nächsten Wochen wenig Entspannung." Via Twitter ermuntert er Menschen mit Vorerkrankungen und vulnerable Gruppen zu einer vierten Impfung. Außerdem empfiehlt er das Tragen von Masken in Innenräumen.
"Niemand kann derzeit sagen, ob im Herbst und im Winter weiterhin Omikron vorherrschend sein wird, ob wir es mit harmloseren Virusvarianten zu tun haben werden oder ob sich solche mit schwereren Verläufen durchsetzen", kritisierte der Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), Klaus Reinhardt, in einer Stellungnahme die Pandemieplanung von Bund und Ländern.
Reinhardt und andere im Gesundheitssektor wollen sich insbesondere darauf konzentrieren, Schulen offen zu halten, vulnerable Personen zu schützen, die Immunität zu stärken und den normalen Betrieb von Krankenhäusern und anderen kritischen Infrastrukturen sicherzustellen.
Immer noch große Impflücke in Deutschland
Während der gesamten Pandemie haben Ärzte und Forscher beklagt, Deutschland sei im "Blindflug" unterwegs gewesen. Das Fehlen zuverlässiger und konsistenter Daten sei "keine gute Grundlage für rationale Entscheidungen", heißt es in der Erklärung der Bundesärztekammer. Der Verband unterstützt eine Liste von Empfehlungen, die der Expertenrat der Bundesregierung herausgegeben hat - vor allem eine bessere Datenerhebung. Keine leichte Aufgabe, zumal Deutschland sich an einer Art Scheideweg befindet.
Auf der einen Seite profitiert das Land von einem hohen Grad an Immunität, und von Varianten, die relativ milde Symptome verursachen. Andererseits könnte diese Immunität aber nachlassen und es besteht noch immer eine sogenannte Impflücke, denn immer noch sind Millionen Menschen nicht oder nicht ausreichend geimpft.
In den vergangenen Wochen sind die Impfzahlen zudem weiter gesunken. Diese Faktoren zusammengenommen, könnten im Winter zum Problem werden. Vor allem, falls eine Variante auftaucht, die gefährlicher ist als Omikron und dessen Untervarianten.
Drei Szenarien für die kommenden Monate
Der Expertenrat skizziert drei Szenarien für den kommenden Herbst, basierend auf dem jeweiligen Schweregrad unterschiedlicher Corona-Varianten. Im besten Fall bleibt es bei milden Verläufen und die Krankenhäuser werden nicht zu stark beansprucht, ähnlich einer normalen Grippewelle. Beschränkungen wären dann nur für Risikopatienten nötig.
Im schlechtesten Fall würden die Krankenhäuser überrannt von lebensbedrohlich erkrankten Patienten. Dann müssten wieder Beschränkungen eingeführt werden, wie das Tragen von Masken und Einschränken sozialer Kontakte. Die Impfzentren müssten für eine vierte Impfung wieder in Betrieb genommen werden.
Der Expertenrat prognostiziert etwas zwischen diesen beiden Extremen. Das würde das verpflichtende Tragen einer Maske und Beschränkungen von Teilnehmerzahlen bei öffentlichen Veranstaltungen nötig machen. Bei regional schlimmeren Ausbrüchen könnten die Maßnahmen schnell verschärft werden.
Studie vergleicht Maßnahmen aus dem Jahr 2020
Es ist Sache der Politiker, diese Empfehlungen politisch umzusetzen. Dabei müssen sie nicht nur die Pandemie in Blick haben, sondern auch wirtschaftliche und psychologische Effekte. Beispielsweise hat eine Studie des Kiel Instituts für Weltwirtschaft IFW jüngst ergeben, dass Schulschließungen die Ausbreitung des Virus wirksam bremsen. Gleichzeitig ist das aber nachteilig für das Wohlbefinden der Kinder.
Weniger einschneidende Maßnahmen wie beispielsweise eine bessere öffentliche Kommunikation, eine umfassende Teststrategie und das Tragen von Masken könnten einen großen Beitrag zur Kontrolle von COVID-19 leisten, so das Ergebnis der Studie. Darin wurden 14 nichtmedizinische Maßnahmen in 182 Ländern aus dem ersten Jahr der Pandemie untersucht.
Streit in der Ampel-Koalition
Die Bundesregierung will mindestens bis Ende Juni warten, bevor Entscheidungen mit Blick auf den Herbst gefällt werden. Dann wird ein Expertengremium seine Evaluierung der bisherigen Corona-Maßnahmen veröffentlichen. Die politische Sommerpause soll dann genutzt werden, um über das weitere Vorgehen zu diskutieren. "Ich muss noch um ein bisschen Geduld bitten. Aber die Vorbereitungen dieser Maßnahmen sind zurzeit im Gange," sagte Sebastian Gülde, Sprecher des Bundesgesundheitsministeriums, auf DW-Anfrage.
Das derzeitige Infektionsschutzgesetz, wonach die Regierung Beschränkungen einführen kann, läuft am 23. September aus. Das führt bereits jetzt schon zu Streit innerhalb der Ampel-Koalition. SPD und Grüne wollen schärfere staatliche Schutzmaßnahmen für den Herbst so früh wie möglich festzurren, um so vor eine mögliche nächste Welle zu kommen. Die FDP dagegen pocht darauf, zunächst alle Maßnahmen zu evaluieren. Erst Anfang des Jahres hatten sich die Freien Demokraten gegen einen Gesetzesentwurf zur Impfpflicht für Erwachsene ausgesprochen. Eine solche Pflicht gibt es jetzt nur für bestimmte Bevölkerungsgruppen, zum Beispiel für Menschen, die in der Pflege oder im Gesundheitsbereich arbeiten.
Omikron-Impfung im Herbst?
Der Schutz durch Impfungen oder bereits durchgemachte Infektionen nutzt sich mit der Zeit ab, die Zahl der Antikörper geht zurück. So können sich die Menschen auch trotz Impfung mit neuen Varianten wie BA.5 anstecken.
Das Bundesgesundheitsministerium, geführt vom Sozialdemokraten Karl Lauterbach, hat deshalb großen Wert darauf gelegt, genügend Impfstoff zu beschaffen. Allerdings ist eine zweite Booster-Impfung für alle noch nicht geplant. Eine speziell auf Omikron zugeschnittene Impfung soll im Herbst zur Verfügung stehen. Ursprünglich hatte der Hersteller BioNTech diese schon für April oder Mai angekündigt.