Das Moers Festival - diesmal digital
29. Mai 2020Das Motto "New Ways to Fly" stand bereits, das Programm auch. Dann, im März, kam die Corona-Pandemie. Zunächst waren Veranstaltungen mit mehr als tausend Besuchern verboten, bald waren nur noch zehn erlaubt, schließlich gab es das vollständigen Kontaktverbot.
Für die Veranstalter des Moers Festivals kam jedoch eine Absage des 49. Jahrgangs nie infrage. "Wir haben den Beschluss gefasst: Okay, wir beobachten die Situation, und dann werden wir reagieren", sagte der künstlerische Leiter Tim Isfort im DW-Gespräch. "Das ist das, was Moers eben auch kann: experimentieren, reagieren, improvisieren."
Nun findet das Moers Festival also wie geplant am Pfingstwochenende vom 29. Mai bis 1. Juni statt, zwar ohne Publikum, aber sehr live – und das Ganze wird vom öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ARTE Concert live gestreamt.
Die Improvisationsfreude ist tief in die DNA des Festivals eingeschrieben. Seinen Ursprung hatte es im Jahr 1969, bei Aufführungen in einem Jazzlokal in Moers, einer Stadt am westlichen Rand des Ruhrgebiets. Drei Jahre später, 1972, folgte dann die offizielle Festivalgründung.
Jazz-Festivals, die das amerikanische Musikgenre nach Deutschland importierten, gab es damals bereits genug; Moers war eine Reaktion darauf, ein Aufstand gegen das Establishment. "Es ging damals nicht unbedingt nur um die Musik", sagt Isfort, "sondern im Grunde um das Gefühl der 68er-Protestbewegung: 'Wir wollen die Welt nicht mehr haben, wie sie war'".
Musikalische Grenzerfahrungen
Lässt sich das Gefühl ein halbes Jahrhundert lang fortschreiben? Wenn man die Vorankündigung des diesjährigen Jahrgangs liest: Ja, denn scheinbar ist alles erlaubt, nur nicht das Erwartbare. "Frecher Krach von Franzosen, bruitistische Elektronik, feinste Impros, holländischer Humor und lateinisches Schlagzeuggewitter" dürfte nur einen Teil der musikalischen Bandbreite beschreiben. Lange Jahre hieß es "Moers New Jazz Festival" bis im neuen Millennium die Verästelungen des Genres sich so weit ausdehnten, dass der Begriff "New Jazz" nicht mehr funktionierte. Gerade in musikalischen Grenzgebieten findet Moers seine musikalische Domäne.
Vier Tage lang, vom frühen Nachmittag bis zu den legendären "Moers Sessions" nach Mitternacht, wechseln sich diesmal die Acts ab, immer mit kurzen Sets von jeweils 30-40 Minuten. Bühnenbild, Licht, Ansagen, alles komplett, es fehlt nur das Publikum vor Ort – aber wenigstens Applaus wird es geben, eingeblendet aus den 48 vorherigen Jahrgängen des Cult-Events.
Das dürfte die Künstler, die oft die Interaktion mit dem Publikum brauchen, zum Teil anfeuern, ebenso die auf Bildschirmen eingeblendeten Posts aus den Sozialen Medien, Likes, Herzchen, Selfie-Clips, Fotos und Kurznachrichten des virtuellen Publikums. Diese werden in den Live-Stream wandern, werden aber auch in der Halle – also den Künstlern – als Echo und als Feedback gezeigt.
Grüße aus dem Paralleluniversum
Eine einzige Spielstätte – nicht sechs, wie in vergangenen Jahren – gibt dem Veranstalter und den Behörden den in der Pandemie nötigen Überblick auf das Geschehen. Dass der strenge Ablauf des Spektakels nicht ermüdend wird, dafür sorgt "Miss Unimoers", ein männlicher Schauspieler. Als sinnbildlich einziges anwesendes Publikumsmitglied ist die Miss "kollektives Gedächtnis, Orakel, Vertreterin eines Paralleluniversums, Zeitreisende und Kronzeugin aus 50 Jahren Zeitgeschehen: von Willy Brandt über die autofreien Sonntage in der Ölkrise der Siebziger Jahre bis hin zu Greta Thunberg", so Tim Isfort. "Sie agiert in der Halle vor dem Bluescreen, unterwandert das Geschehen, nimmt uns mit und wird den Leuten zu Hause helfen, länger dran zu bleiben."
Die Veranstalter haben offensichtlich erkannt, dass eine gewisse Leichtigkeit in der Krise Künstlern und Publikum guttut. Das soll aber nicht heißen, dass man unvorsichtig geworden wäre. "Bei den Laufwegen sind Mindestabstände gezeichnet." sagt Tim Isfort. "Chorsänger singen hinter Plexiglass. Aber es ist alles ganz gut umzusetzen. Wir haben sogar witzige Desinfektionshalter: Man tritt darauf wie bei einem Schlagzeug-Set."
Von schnödem Mammon und "aerosolos"
Wie aber existiert ein Festival ohne Einkommen aus den Kartenerlösen? "Wir sind wirklich privilegiert", erklärt Isfort. "Wir haben den großen Rückhalt unserer Fördergeber, also der Beauftragten für Kultur und Medien, dann das Land Nordrhein-Westfalen, die Kunststiftung Nordrhein-Westfalen, aber auch die Medienpartner, ARTE Concert und WDR-Fernsehen und -Hörfunk. Als wir Mitte März gesagt haben: 'Wir machen auf jeden Fall etwas', waren sie teilweise wirklich begeistert. Der Wegfall der Ticketeinnahmen ist schon ein starker Verlust. Aber wir kommen mit einem blauen Auge davon."
Der künstlerische Leiter sieht aktuell sogar den Beginn einer neuen Ära für Großveranstaltungen aller Art. "Ich glaube, dass diese Krise vielleicht eine Vorstufe zum Hybriden ist. Wir haben uns letztes Jahr gefragt, vor dem Hintergrund der Klimawandel-Diskussion: 'Ist es richtig, ständig Musiker aus aller Welt einzufliegen?' Ein Festival hat auch eine Vorbildfunktion und muss vielleicht auch kritisch vorweggehen. Das tun wir in diesem Jahr eben auch. Genauso wie die Loveparade-Katastrophe vor zehn Jahren sehr große Auswirkungen auf die Veranstaltungswelt hatte und noch hat, wird auch diese Krise lange Jahre zu spüren sein. Insofern ist es, glaube ich, eine gute Chance, neue Sachen auszuprobieren."
Jetzt aber ist erst mal die diesjährige Ausgabe dran: Es treten Stars wie Chilly Gonzales und Heiner Goebbels auf, aber auch viele dem breiteren Publikum Unbekannte, die den musikalischen Horizont der User erweitern mögen. Von Diskussionen über die zeitgemäß-witzig genannten "aerosolos" und Formationen jeder Art bis hin zu den legendären spätabendlichen "moers sessions!" mit ausgefallenen Improvisationen: ganze 45 Programmpunkte erwarten den User, Start ist am 29. Mai um 14.50 MESZ, hier.