Das neue Leben der Analphabeten
12. Oktober 2012Ernst Lorenzen schwärmt: "Für mich hat ein neues Leben angefangen. Ich bin begeistert, dass ich das so toll hinkriege. Ich wusste gar nicht, was alles Tolles in Büchern steht." Ernst Lorenzen hat mit dem Lesen Lebensfreude gefunden und den Mut aufgebracht, sich zu seiner Schwäche zu bekennen. Er hat sogar eine Selbsthilfegruppe gegründet. Zehn funktionale Analphabeten waren beim letzten Treffen in Oldenburg dabei. Zehn von geschätzten 12.000 funktionalen Analphabeten rund um die norddeutsche Stadt, die zwar Buchstaben und einzelne Wörter entziffern können, aber nicht in der Lage sind, zusammenhängende Sätze zu lesen und zu schreiben.
Sein Handicap - "die Buchstaben nicht so parat zu haben" - hat ihn Zeit und Kraft gekostet. Es hat berufliche Karrieresprünge vereitelt, ihn aber immerhin erfinderisch gemacht. Um sein Defizit zu verbergen und auszugleichen, war er Meister im Finden von Strategien, um seinen Alltag zu bewältigen. Straßennamen lernt er auswendig, um Auftragszettel zu entziffern, fährt er regelmäßig auf Parkplätze. "Das war alles mit riesigem Aufwand und großem Leidensdruck verbunden", sagt Lorenzen rückblickend und erinnert sich an die Anfänge: In der Schule fragt er öfter nach. Die strenge Lehrerin reagiert cholerisch. Eines Tages verweist sie ihn auf eine Bank in der letzten Reihe. Dort soll er "schön zuhören". Der Junge versteht noch weniger und resigniert.
Analphabeten sind Perfektionisten beim Täuschen
Andere Schüler mit dem gleichen Problem nennen Schmerzen im Arm als Grund, nicht schreiben zu können, oder blinzeln auf einen Text und geben vor, eine Brille zu brauchen, weil die Schrift zu klein ist.
"Wir haben in Deutschland das Vorurteil, dass ein solcher Erwachsener minder intelligent ist. Und wer sich offenbart, muss befürchten, dass er auf alle Ewigkeit mit diesem Vorurteil konfrontiert wird", weiß Peter Hubertus um das seelische Leid der Betroffenen. "Deshalb ist es wichtig, dass wir deutlich machen, dass diese Menschen sehr clever sein müssen, um durchs Leben zu kommen - ohne Lesen und Schreiben zu können." Hubertus ist Vorstands- und Gründungsmitglied des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung in Münster. Seine Organisation betreibt Lobbyarbeit und bietet Ratsuchenden Hilfe übers Telefon.
Der Umbruch der Arbeitswelt offenbart die Schwächen
Früher bekamen ungelernte Erwachsene einen Job als Spüler in der Gastronomie oder Hilfsarbeiter auf dem Bau, wo sie ohne Lesen und Schreiben bestehen konnten. Heute, im Bildungs- und Medienzeitalter, müssen Unqualifizierte und Arbeitslose ständig Bewerbungen schreiben, um auch weiterhin staatliche Unterstützung zu erhalten. Bei der Jobsuche setzen die Arbeitsagenturen voraus, dass die Bewerber einen Computer bedienen können.
Ernst Lorenzen wird Tischler, macht sogar die Gesellenprüfung, arbeitet 39 Jahre in derselben Firma. Sein Arbeitgeber ist eingeweiht. "Ihm war wichtig, was produziert wird. Das war immer gut. So bin ich durchs Leben gekommen." Was sich heute so unbeschwert anhört, war mit großen Mühen verbunden. Seine Frau und die zwei Kinder hefen ihm, den Alltag zu meistern.
Aus der Not erwächst die Chance
"Eigene Kinder sind oft der Grund für Erwachsene, Lesen und Schreiben zu lernen. Ein anderer ist der Verlust der nächsten Bezugsperson, die in die Schwäche des funktionalen Analphabeten involviert ist", sagt Peter Hubertus vom Bundesverband Alphabetisierung.
Wenn diese Hilfe plötzlich wegfällt, um beispielsweise Einkäufe oder Arzttermine zu koordinieren oder den Schriftverkehr zu erledigen, dann raffen sich viele auf, um eigenständiger zu werden.Bei Ernst Lorenzen ist es ebenfalls ein Schicksalsschlag, der ihn veranlasst, nochmals die Schulbank zu drücken. Mit 55 wird er voll erwerbsunfähig. Er hat gerne gearbeitet und will nicht zu Hause "versauern", er wagt den Schritt zur Volkshochschule. Seit zwei Jahren paukt er nun fünf Mal die Woche jeden Vormittag intensiv mit Gleichgesinnten. "Man glaubt ja immer, man ist ganz alleine, aber das stimmt nicht", hat der Frührentner festgestellt.
Ein gesellschaftliches Problem
Etwa 7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben, obwohl sie jahrelang die Schule besucht haben. Diese erschreckende Zahl offenbarte eine Studie der Universität Hamburg aus dem Jahr 2011. Daraus geht auch hervor, dass knapp 57 Prozent der funktionalen Analphabeten einer Arbeit nachgehen.Bundesweit gibt es nur 20.000 Plätze in Deutschkursen für Erwachsene, die meist die Volkshochschulen (VHS) anbieten. Margret Heuking-Seeger von der VHS Lingen/Ems gehört zu den Pionieren bei der Rekrutierung von Menschen mit Lese- und Schreibproblemen für Kurse. "Als ich vor 25 Jahren anfing, dachte ich: Jetzt sollst Du im Emsland Analphabeten suchen." Und dann begab sich die Pädagogin tatsächlich auf den Weg, schaltete Anzeigen, warb in Arztpraxen und Pfarreien. Im strukturschwachen Emsland war das Problem zwar latent vorhanden, doch die Betroffenen wagten sich freiwillig nicht in einen dieser neuen Kurse: "Viele hatten Angst, entdeckt zu werden."
Da die Scham der meisten Kursbesucher nach wie vor sehr groß ist, haben sie die Möglichkeit, einen separaten Eingang zu benutzen und in Räumen zu üben, die abseits vom Kernbetrieb der VHS liegen. "Wenn sie doch einmal im Flur zufällig einen Bekannten treffen, erfinden sie Ausreden, geben vor, nur die Toilette in dem Gebäude benutzen zu wollen."
Lehren mit Fingerspitzengefühl, lernen mit Furcht
Der Unterricht wird individuell und teilnehmerorientiert aufgebaut. Wenn die Kandidaten die Scham abgelegt haben, was allerdings Jahre dauern kann, geht es nach draußen zum Praxisunterricht in Bibliotheken, ins Rathaus oder Fremdenverkehrsbüro, um aufzuzeigen, welche Veranstaltungen es im Umkreis der Lerner gibt: "Denn Sie dürfen nicht vergessen, dass mit dem Nicht-Lesen-und-Schreiben-Können der Ausschluss aus dem kulturellen Leben einhergeht", hat Margret Heuking-Seeger erfahren.
Ernst Lorenzen hat Lesen und Schreiben als Passion entdeckt. Er solle doch einmal ein Buch schreiben, haben Bekannte ihm nahegelegt. Vielleicht tut er es - wenn er überhaupt dazu kommt, denn besonders am Herzen liegt ihm die ABC-Selbsthilfegruppe in Oldenburg, die er mitgegründet hat. Sein Fazit: "Das Alter spielt keine Rolle, man kann es immer lernen."