Demenz - verdrängte Gefahr im Profifußball
13. November 2020Jetzt auch noch Bobby Charlton, für viele Englands bester Fußballer aller Zeiten. Seine Frau Norma gab unlängst bekannt, dass ihr 83 Jahre alter Ehemann an Demenz leide. Es wirkt fast, als läge ein Fluch über der englischen Weltmeisterelf von 1966. In den vergangenen beiden Jahren starben vier der elf "Helden von Wembley" in einem hochgradig dementen Zustand: Ray Wilson, Martin Peters, Bobby Charltons Bruder Jack und zuletzt, Ende Oktober, Nobby Stiles.
"Das ist kein Zufall", sagt William Stewart der DW. "Mit Sicherheit handelt es sich um eine Bestätigung des erhöhten Risikos von neuro-degenerativen Erkrankungen im Profifußball." Der Forscher der Universität Glasgow hatte vor einem Jahr mit seinem Team die Todesursachen von über 7500 früheren schottischen Fußballprofis ausgewertet. Das Ergebnis der Studie: Das Risiko, an Alzheimer, Parkinson oder anderen Demenzerkrankungen zu sterben, liegt bei Fußballprofis dreieinhalb Mal höher als normal.
"Der Job hat ihn umgebracht"
Dawn Astle fühlt mit der Familie Bobby Charltons. Es sei nicht leicht, eine so private Angelegenheit öffentlich zu machen, sagt Astle der DW: "Er ist ein Ehemann, ein Vater, ein Großvater, der diese brutale Krankheit durchmacht. Aber wenn Familien dieser so symbolträchtigen Mannschaft öffentlich darüber reden, verleihen sie der Diskussion ein zusätzliches Momentum." Dawns Vater Jeff Astle war einst ein für seine Kopfballstärke bekannter Profi des englischen Traditionsvereins West Bromwich Albion. 2002 starb Astle, hochgradig dement, im Alter von nur 59 Jahren an CTE (Chronische Traumatische Enzephalopathie), auch als Boxer-Syndrom bekannt. Die Leiche des Ex-Fußballprofis wurde obduziert.
"Der Pathologe beschrieb, wie schwer das Gehirn meines Vaters geschädigt war, es habe wie das Gehirn eines Boxers ausgesehen. Die wahrscheinlichste Ursache für dieses Trauma sei das häufige Kopfballspiel", erinnert sich Dawn Astle. "Das Urteil [des Pathologen Anm. d. Red.] lautete: Berufskrankheit. Mit anderen Worten, es war der Job meines Vaters, der ihn umgebracht hat." Damals sei die Angelegenheit noch "unter den Teppich gekehrt" worden, sagt Dawn Astle. Seit Jahren kämpft sie mit ihrer Stiftung, der "Jeff Astle Foundation", dafür, dass die Fußballverbände das Thema Demenz unter Profis ernst nehmen und Konsequenzen daraus ziehen.
Von Puskas bis Müller
"Jetzt liegen die Daten auf dem Tisch", sagt Astle. "Heute wissen wir, dass es ein riesiges Risiko für Fußballer gibt. Der Fußball sollte darauf reagieren, und zwar jetzt." Der englische Fußballverband FA untersagte Ende Februar Kopfballtraining für Kindermannschaften bis zur U12, der schottische und der nordirische Verband zogen nach. Die anderen mehr als 200 Verbände weltweit hätten sich daran jedoch kein Beispiel genommen, regt sich Neuropathologe William Stewart von der Universität Glasgow auf: "Bislang scheint dieses globale Thema in einem globalen Spiel nicht über Großbritannien hinausgekommen zu sein."
Nicht nur in England, sondern weltweit gibt es zahlreiche Fälle früherer Fußballstars, die dement wurden. So litt der ungarische Weltstar Ferenc Puskas, der 2006 starb, an Alzheimer. Bei Hilderaldo Bellini, dem Kapitän der brasilianischen Weltmeister-Elf von 1958, wurde nach seinem Tod 2014 - wie bei Jeff Astle - CTE diagnostiziert. José Luis Brown, der im Finale der WM 1978 gegen die Niederlande das 1:0 für den späteren Weltmeister Argentinien erzielte, starb 2019 mit nur 62 Jahren an Alzheimer. An derselben Krankheit litt Goyo Benito, legendärer Innenverteidiger des spanischen Renommierklubs Real Madrid, der im vergangenen April mit 73 Jahren an COVID-19 starb.
Auch in Deutschland gibt es prominente Demenz-Fälle unter Ex-Profis wie die der Weltmeister von 1974, Gerd Müller und Horst-Dieter Höttges, die in Pflegeheimen versorgt werden - oder jenen von Helmut Haller: Der Schütze des ersten Tors im WM-Finale 1966 in Wembley starb 2012, er litt an Parkinson und schwerer Demenz.
Veränderte Gehirnstruktur
Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) lehnt ein Kopfball-Trainingsverbot nach englischem Vorbild bisher ab. Gezieltes Training dafür werde ohnehin erst für Jugendliche ab 13 Jahren empfohlen, argumentiert der DFB. Außerdem sei die wissenschaftliche Daten-Lage noch zu dünn. "Es gibt noch keinen Beweis dafür, dass intensives Kopfballspiel automatisch zu CTE und Demenz führt", räumt Ingo Heimelt ein, der sich als Sportwissenschaftler an der Deutschen Sporthochschule Köln mit sportbedingten Gehirnerschütterungen befasst. "Aber je mehr Studien einen Zusammenhang herstellen, umso dramatischer wird die Situation."
Mit einem Kopfball-Trainingsverbot bis zur U12 sei das Thema noch nicht vom Tisch, sagt Inga Körte, Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, der DW: "Kinder im Alter unter 12 Jahren spielen nachweislich ohnehin kaum Kopfbälle, Jugendliche hingegen häufiger. Und in unseren Studien sehen wir bei Jugendlichen Hinweise auf Veränderungen der Gehirnstruktur und -funktion." Derzeit, so Körte, laufe eine größer angelegte europäische Studie mit rund 130 Jugendlichen, die Ergebnisse würden in den kommenden Monaten erwartet.
Die Wissenschaftlerin untersucht seit Jahren die Auswirkungen des Kopfballspiels auf das Gehirn. Unter anderem hat sie bei Profifußballern, die häufig Kopfball spielen, eine stärker veränderte weiße Gehirnsubstanz festgestellt als bei Kontrollgruppen. Die weiße Substanz besteht überwiegend aus Nervenleitungen, über die Signale zwischen Gehirnzellen übertragen werden. Eine Aussage über ein erhöhtes Demenzrisiko von Profis im Alter lasse sich auf Grundlage ihrer Studien nicht treffen, sagt Körte.
Magische Ninja-Kopfballtechnik?
Die Forschung zu diesem Thema steht erst am Anfang. "Es ist schwierig festzulegen: Ab welcher Anzahl von Kopfbällen muss ich davon ausgehen, dass jemand eine Demenz entwickelt?", sagt Ingo Heimelt der DW. "Da gibt es noch keine klare rote Linie. Solche Zahlen wären notwendig." Auch der Sportwissenschaftler aus Köln sieht in einem Kopfball-Trainingsverbot für Kinder kein Allheilmittel: "Ich würde aktuell auch eher davon abraten, Kopfbälle gezielt zu promoten. Auf der anderen Seite sehe ich die Gefahr, dass man sich ohne entsprechendes Training mit einem schlecht ausgeführten Kopfball auch verletzen kann. Es stellt sich also die Frage: Bringt das Nicht-Trainieren des Kopfballspiels andere negative Auswirkungen?"
Für Profis gelte das nicht, findet William Stewart. Das Kopfballtraining einzuschränken, sei für ihn "ein klügerer Vorschlag, um unnötige Schläge [auf das Gehirn - Anm. d. Red] im Training zu reduzieren, als die Fantasie-Hypothese, dass es eine magische Ninja-Kopfballtechnik gibt, die bisher noch nicht entschlüsselt wurde, die es aber zu entdecken gilt."
Dawn Astle und ihre Mitstreiter von der "Jeff Astle Foundation" fordern ebenfalls, das Kopfballtraining auch im Erwachsenenalter zurückzufahren. Man müsse aus dem Schicksal der Weltmeister um Bobby Charlton lernen, sagt sie: "Das englische Team von 1966 bleibt das Nonplusultra im britischen Fußball, die größte Mannschaft aller Zeiten. Dass bei fünf Spielern Demenz diagnostiziert wurde, mag erstaunlich klingen. Ich fürchte jedoch, dass es überall im Land auch andere Fußballmannschaften mit derselben Quote gibt."