Der Drogenkrieg frisst seine Kinder
15. April 2016Lautes Stöhnen und Schreie erfüllen den schmalen Gang zwischen den Zellen. Dünne Arme quetschen sich durch enge Gitter. Sie bewegen sich nur wenige Zentimeter hin und her. Ihre Ellenbogen sind eingequetscht zwischen den Körpern ihrer Mithäftlinge.
Kein Platz, keine Gnade, keine Hoffnung: Die Überfüllung brasilianischer Gefängnisse macht für die mehr als 700.000 Häftlinge im größten südamerikanischen Land die Haft zur Hölle. Schon wenige Gramm Marihuana können hinter Gitter führen: Jeder dritte Häftling sitzt nach Angaben des brasilianischen Justizministeriums wegen Drogendelikten ein.
Der jahrzehntelange Drogenkrieg hat nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Lateinamerika tiefe Wunden in die Gesellschaft gerissen. Bei der Jagd auf Kartelle wurden große Teile der Bevölkerung in Geiselhaft genommen. Die Macht des organisierten Verbrechens droht, demokratische Institutionen in der Region auszuhöhlen.
Erst Kolumbien, dann Mexiko
"Solange der Konsum von Drogen als Straftat gilt, werden Drogenhandel und ausufernde Gewalt zunehmen und die Strukturen ganzer Staaten erschüttern", sagt Kolumbiens ehemaliger Präsident César Gaviria der DW. "In der Vergangenheit hat sich dies in Kolumbien abgespielt, heute wiederholt es sich in Mexiko."
Mexikos Drogenkartelle haben das Land in seinen Grundfesten erschüttert. In den vergangenen zehn Jahren sind dort rund 100.000 Menschen im sogenannten Drogenkrieg gestorben, über 20.000 gelten als vermisst. Dazu gehören auch die 43 Lehramtsstudenten aus der Stadt Iguala, die im September 2014 entführt und vermutlich ermordet wurden. Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt.
Eine Reihe ehemaliger Staatschefs aus Lateinamerika, darunter Ernesto Zedillo aus Mexiko, Fernando Enrique Cardoso aus Brasilien oder eben auch César Gaviria wollen diesen aussichtslosen Krieg beenden. Zusammen mit weiteren Politikern wie etwa dem früheren UN-Generalsekretär Kofi Annan gehören sie der Weltkommission für Drogenpolitik (Global Commission on Drug Policy) an. Die Kommission setzt sich für eine neue Drogenpolitik ein - jenseits der Repression.
Legalisierung? Nein danke!
Doch sie haben einen schweren Stand: Obwohl Lateinamerika mehr als jede andere Weltregion unter der ausufernden Drogengewalt leidet, spricht sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen jegliche Art von Legalisierung des Drogenkonsums aus. Meinungsumfragen zufolge sind in Brasilien 79 Prozent der Bevölkerung gegen die Legalisierung von Marihuana, in Mexiko sind es 77 Prozent.
Auch der honduranische Kardinal Óscar Andrés Rodriguez Maradiaga gehört dazu. "Das Problem ist der Konsum. Solange nichts unternommen wird, ihn zu verringern, wird sich nichts ändern", erklärt der Erzbischof von Tegucigalpa gegenüber der DW. Das Geld aus dem Drogenhandel bleibe nicht in Kolumbien, Peru oder Bolivien, es liege auf Bankkonten in den USA. Maradiaga: "Die UN stoßen zwar gute Initiativen an, aber sie sind nicht frei von Doppelmoral."
Fest steht: Die Zeiten, in denen in Lateinamerika Drogen nur angebaut, nicht aber konsumiert wurden, sind vorbei. Noch vor 30 Jahren brachten Schmuggler ihre Kokapaste nach Kolumbien zu den Kartellen von Cali und Medellin. Von dort wurde der Stoff weiter in die USA transportiert.
Heute beliefern sie als Rinder- oder Sojafarmen getarnte Labors in Bolivien, Paraguay und Brasilien, die für den südamerikanischen Markt produzieren. Das Geschäft lohnt sich: Der durchschnittliche Kokainkonsum in der Regionhat sich nach UN-Angaben von 1,84 Millionen Nutzern (0,7 Prozent) auf rund 3,34 Millionen Konsumenten fast verdoppelt!
Rausch in Rio
Trotz der drakonischen Strafen ist Brasilien der größte Markt: Fast jeder 50. Erwachsene konsumiert hier Kokain. Brasilien ist damit nach den USA mit einem Anteil von fast einem Fünftel am weltweiten Kokain-Verbrauch der zweigrößte Absatzmarkt.
Der Kampf der Kartelle um neue Kunden und die Kriminalisierung des Drogenkonsums haben in Lateinamerika zu einem massiven Anstieg der Gewalt geführt. Nach Angaben des UN-Büros für Drogen-und Verbrechensbekämpfung UNDOC befinden sich 41 der 50 gefährlichsten Städte der Welt in der Region.
Spitzenreiter ist die venezolanische Hauptstadt Caracas mit 119,9 Morden pro 100.000 Einwohner. Danach kommen San Pedro Sula (111) in Honduras und San Salvador (108,5). Der mexikanische Badeort Acapulco verzeichnet eine Mordrate von 104,7 pro 100.000 Einwohner. Brasilien erreicht mit 56.000 Toten pro Jahr die höchste Mordrate weltweit in absoluten Zahlen.
"Es ist unübersehbar: Die internationale Gemeinschaft kann im Kampf gegen Drogen keine Erfolge vorweisen", stellt Kolumbiens Ex-Präsident Gaviria fest. Die Politik der Prohibition und Kriminalisierung müsse durch eine Strategie ersetzt werden, die bessere Ergebnisse bringe.
Therapie statt Gefängnis?
An Initiativen für eine neue Drogenpolitik mangelt es auch in Lateinamerika nicht. Uruguay testet seit gut zwei Jahren die Legalisierung von Marihuana. Als weltweit erstes Land hatte dort der Senat am 10. Dezember 2013 in einer historischen Abstimmung den Konsum, Anbau und Handel von Cannabis legalisiert und reglementiert.
In Mexiko machte der Oberste Gerichtshof im November 2015 den Weg zur Legalisierung von Marihuana frei. Die Richter folgten damit der Argumentation der mexikanischen Gesellschaft für Konsum von Marihuana zum Eigenbedarf (SMART), die gegen das Verbot geklagt hatte. Das Urteil wird als Abkehr von der prohibitionistischen Politik in Mexiko gewertet.
Trotz aller Verbote sind sich viele Länder Südamerikas mittlerweile über die medizinische Bedeutung von Marihuana einig. In Argentinien, Peru, Brasilien, Chile und Kolumbien ist der Anbau der Pflanze zu therapeutischen Zwecken mittlerweile legal.
Es wird also auch in Lateinamerika immer schwieriger zu erklären, warum Cannabiskonsum zwar medizinisch geboten, aber juristisch strafbar sein kann. Und warum er immer noch tausende von Menschen hinter Gitter bringt.