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Kein christliches Deutschland mehr?

Stefan Dege11. April 2013

Der Münsteraner Zeithistoriker Thomas Großbölting hat das religiöse Feld Deutschlands untersucht. Sein Fazit: "Es gibt kein christliches Deutschland mehr".

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Eine Gläubige sitzt am 14.03.2013 im Münster in Freiburg (Baden-Württemberg) in der heiligen Messe. Die Reaktionen im frühen Gottesdienst zur Wahl des neuen Papstes Franziskus waren verhalten. Foto: Patrick Seeger +++(c) dpa - Bildfunk+++
Bild: picture-alliance/dpa

Ein abgeknickter Wetterhahn, wie wir ihn vom Turm einer christlichen Kirche kennen, ragt in einen wolkenverhangenen Himmel. Dieses Bild prangt auf dem Umschlag des Buches, das soeben im Göttinger Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erschienen ist. Es setzt ein Ausrufezeichen und ist zugleich Ergebnis von Großböltings Versuch, das religiöse Feld Deutschlands aufzurollen. Die nüchterne Feststellung des Wissenschaftlers: "Die Politik muss auf die neue religiöse Vielfalt reagieren!" Auch müssen die Volkskirchen die christliche Botschaft in zeitgemäßerer Form an die Frau und an den Mann bringen.

Andere Sinn- und Deutungssysteme

Der Mitgliederschwund der christlichen Kirchen ist dramatisch: Gehörten in den 1950er Jahren noch 95 Prozent der Deutschen einer der beiden Volkskirchen an, sind es mittlerweile nur noch knapp zwei Drittel. Tendenz: weiter abnehmend. Andere Glaubensgemeinschaften sind auf dem Vormarsch, vor allem der Islam. Und eine Gruppe wächst in Deutschland am schnellsten – die der Konfessionslosen, nicht zu verwechseln mit Ungläubigen. "Es gibt heute ein viel größeres Angebot an Sinn- und Deutungssytemen", sagt Großbölting, "und dank der Medien wissen das die Leute auch."

Thomas Großbölting ist Professor für Neuere und Neuste Geschichte am Historischen Seminar der WWU Münster. Nach Studien in Köln, Bonn und Rom hat er in Münster ein Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien in den Fächern Geschichte, katholische Theologie und Germanistik abgeschlossen. Ebendort hat er 1998 mit einer Studie zum Bürgertum und zur Bürgerlichkeit in der NS- und in der SED-Diktatur promoviert. In seiner Habilitation analysierte er die Industrie- und Gewerbeausstellungen des langen 19. Jahrhunderts als Medien der Diskussion und Popularisierung von Konsummöglichkeiten in der sich industrialisierenden deutschen Gesellschaft. Quelle: http://www.uni-muenster.de/Geschichte/histsem/NZ-G/L2/Mitarbeiter/ThomasGrossboelting.html
Thomas Großbölting, Professor für Zeitgeschichte an der Uni MünsterBild: privat

Wonach suchen die Menschen? Stillen wir unser Bedürfnis nach Transzendenz heute schon – wie in den USA – im religiösen Supermarkt? Nein, sagt der Wissenschaftler. Abtrünnige Katholiken oder Protestanten fänden häufig keine organisierten Alternativangebote und drifteten deshalb in die Religionslosigkeit ab. "Darin liegt die Herausforderung für die christlichen Großkirchen", meint Großbölting, "nämlich die eigenen Religionsangebote wieder präsenter zu machen." Das Christentum sei zu einem Anbieter unter vielen für Sinnstiftung und Sonntagsgestaltung geworden. Diese neue Rolle wüssten die Kirchen noch nicht zu füllen.

Zu enge Staat-Kirchen-Bindung

Auch deshalb registriert der Münsteraner Wissenschaftler in Deutschland zunehmend religionspolitische Konflikte – die Diskussion um die Abweisung einer vergewaltigten Frau in zwei katholischen Kliniken Kölns etwa, das Streikrecht für kirchlich Bedienstete, die Beschneidungsdebatte oder auch die Koranverteilung durch Salafisten. "Kirchen und Politik unterschätzen den Handlungsbedarf notorisch", warnt Großbölting, "Sie nehmen Veränderungen erst wahr, wenn sie als Probleme auftreten." Trotz seiner gewachsenen religiösen Pluralität sei Deutschland weit davon entfernt, alle Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln.

German-born Pope Benedict XVI (C) is greeted as he arrives on his popembile through the crowd before holding a mass on the grounds of the airport in Freiburg, southern Germany, on September 25, 2011, on the last day of the Pontiff's first state visit to his native Germany. The 84-year old pope, German born Joseph Ratzinger, has a packed program, with 18 sermons and speeches planned for his four-day trip to Berlin, Erfurt in the ex-German Democratic Republic and Freiburg. (Photo credit should read JOHANNES EISELE/AFP/Getty Images)
Die Großkirchen müssen ihre christliche Botschaft besser verpacken, empfiehlt der AutorBild: Getty Images

So kämen Muslime heute trotz ihrer wachsenden Zahl politisch zu kurz, betont Großbölting. Der Grund: Kirche und Staat seien noch immer eng verbunden: "Vieles hat sich erhalten – die Kirchensteuer, der Religionsunterricht an staatlichen Schulen oder der Sitz von Kirchenvertretern in Rundfunkgremien." Deutschland habe ein Staatskirchenrecht, brauche aber ein Staatsreligionsrecht, um die Beziehung von Staat und Religion neu zu regeln.

Gleiches Recht für alle

"Nur wenn der Staat den gleichen Abstand zu allen Religionsgemeinschaften hat", folgert Großbölting, "kann er von allen gleichermaßen verlangen, dass sie sich an Recht und Gesetz halten." Er müsse dann aber auch alle gleichermaßen unterstützen.

n vielen Teilen der Welt war und ist das soziale Leben von religiösen Vorstellungen durchtränkt. In Westeuropa wie auch in Deutschland verhält es sich nicht mehr so: Seit Ende des Zweiten Weltkriegs erleben wir einen beispiellosen Traditionsbruch innerhalb der christlichen Konfessionen. Während die unmittelbare Nachkriegszeit noch von der Idee einer umfassenden „Rechristianisierung“ geprägt war, hat sich diese Vorstellung wenige Jahrzehnte später verflüchtigt. Die individuelle Frömmigkeitspraxis schwindet, die Gotteshäuser werden leerer. Hinzu kommt, dass sich auch die christlichen Kirchen selbst in dieser Transformation umfassend gewandelt haben: Der „strafende Gott“ hat sich allmählich zum „liebenden Vater“ entwickelt, die „Christenlehre“ zum Religions- und Ethikunterricht. Diese Entwicklung betrifft nicht nur die Kirchen selbst, sondern verändert auch die politische Kultur insgesamt: Idealbilder und Praxis von Kernbereichen des gesellschaftlichen Lebens wie Familie, Sexualität, Bildung, aber auch politische Entwürfe sind immer weniger christlich geprägt, so dass der gesellschaftliche und politische Einfluss der Kirchen abnimmt. Dennoch aber ist die Vorstellung vom Verschwinden der Religion nicht haltbar. Ein populärreligiöser Markt boomt, spirituelle Ratgeber werden als Lebenshelfer konsultiert, Religionsvertreter als Berater in Fragen der letzten Dinge um ihre Meinung gebeten. Wie lassen sich die verschiedenen Ebenen dieses Wandels erklären? Welche Konsequenzen zeitigt er für die religiösen Gemeinschaften, vor allem aber für unser Gemeinwesen insgesamt? Und: In welche Richtung wird sich das religiöse Feld zukünftig entwickeln? Diese Fragen beantwortet Thomas Großbölting in seiner Geschichte des Christentums in Deutschland von 1945 bis heute. Quelle: http://www.v-r.de/de/title-0-0/der_verlorene_himmel-1008292/
Woran glauben die Menschen in Deutschland? Antworten gibt das Buch "Der verlorene Himmel"Bild: Vandenhoek&Ruprecht

Großböltings Appell an die islamischen Gemeinschaften, die bislang keine förmliche Mitgliedschaft kennen: Sie müssten sich organisatorisch verändern, um juristisch und politisch in der deutschen Gesellschaft anzukommen. Als sichtbaren Fortschritt sieht der Münsteraner Historiker die Einführung des islamischen Religionsunterrichts an staatlichen Schulen. Und sogar gesetzliche islamische Feiertage, wie unlängst vom Zentralrat der Muslime in Deutschland gefordert, hält Großbölting nicht für abwegig.

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"Der Verlorene Himmel - Glaube in Deutschland seit 1945" ist im Verlag Vandenhoeck und Ruprecht in Göttingen erschinen, hat 320 Seiten und kostet Euro 29,99. Der Autor Thomas Großbölting ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Uni Münster.