Deutschland und die Kernenergie: Das Aus ist wohl endgültig
28. Januar 2024Fast sang- und klanglos ist Deutschland vor einem Jahr aus der Atomkraft ausgestiegen. Die letzten drei Kraftwerke wurden vom Netz genommen. Anfang der sechziger Jahre aber war die Atomkraft ein Versprechen auf die Zukunft: Energie, so dachten Politiker und Wissenschaftler damals, würde bald in unendlichen Mengen zur Verfügung stehen. Ohne die Luft zu verpesten. Von der Gefahr eines nuklearen Unfalls war kaum die Rede.
"Die Staaten wollten die Atomkraft"
Heinz Smital, Atomexperte der Umweltschutzorganisation Greenpeace, sagt im DW-Gespräch, vor allem Politiker seien euphorisch gewesen: "Die Kernenergie hat von Anfang an davon profitiert, dass die Technik durch die Nuklearwaffen im Blickpunkt der Staaten war. Es waren nicht die Energiekonzerne, die unbedingt in die Atomkraft einsteigen wollten. Es ging von den Staaten aus." Und Jochen Flasbarth (SPD), heute Staatssekretär im Entwicklungsministerium, ergänzt: "In den sechziger Jahren war Deutschland noch im Wirtschaftswunder-Modus mit einer sehr großen, fast naiven Technik-Gläubigkeit."
Es herrschte also Atom-Zuversicht, in Ost und West. In der damaligen DDR ging 1961 das erste wirtschaftlich genutzte Kernkraftwerk ans Netz. Auch im Westen war Konsens: Die Kernenergie sei eine gute Sache. Vor allem im Industriekernland in Nordrhein-Westfalen war die Luft dreckig und der Himmel trüb. Das lag an der Stahl- und Kohleindustrie. Die Kohle wurde auch zur Stromerzeugung verfeuert. Die Kernenergie hingegen versprach "saubere" Energie. Seit 1961 gingen insgesamt 37 Atomreaktoren in Deutschland (West und Ost) ans Stromnetz.
Jugendkultur und Protest gegen die Kernenergie
In den siebziger Jahren änderten sich die Einstellungen: Die aufkommende Umweltbewegung demonstrierte vor den Bauplätzen neuer Kraftwerke, etwa in Brokdorf in Schleswig-Holstein. Jochen Flasbarth erinnert sich im Gespräch mit der DW: "Die Anti-Atom-Bewegung entstand als Teil der Proteste junger Leute gegen ihre in weiten Teilen apolitische Elterngeneration. Dies kulminierte in den großen Anti-Atom-Demonstrationen. Etwa der Demo in Brokdorf, bei der ich als 17-Jähriger dabei war."
Und eine weltweite Meldung schreckte breite Bevölkerungsgruppen auf: 1979 kam es in den USA, im Atomkraftwerk bei Harrisburg in Pennsylvania, zum bislang weltweit folgenschwersten Unfall in einem Kernkraftwerk. Nur mit Mühe konnte eine Katastrophe verhindert werden. Die heutige Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sagt der DW: "Die ursprüngliche Atom-Euphorie wich zunehmend der Erkenntnis, dass Atomenergie nicht beherrschbar ist. Menschen organisierten sich vermehrt bei Bürgerinitiativen und hinterfragten kritisch die Versprechungen der Industrie. Ähnliches gilt auch für die Umweltbewegung in vielen anderen Staaten.“
Tschernobyl und der schrittweise Ausstieg
Und dann kam Tschernobyl, in der heutigen Ukraine, damals der Sowjetunion, am 26.4.1986: Der erste GAU (größte anzunehmende Unfall) in einem Atomkraftwerk mit schweren Folgen bis heute. Seitdem herrschte auch in Deutschland eine große Skepsis der Kernenergie gegenüber. Smital: "Der Bau von Kraftwerken ist danach eigentlich eingebrochen. Es gab unglaubliche Pläne allein in Deutschland für 60 Atomkraftwerke. Und dieser Genickbruch der Atomenergie hält eigentlich bis heute an."
Die Forderung, die Reaktoren abzuschalten, war zentral für das Programm der Grünen, die 1983 in den Bundestag kamen und 1998 an der Seite der SPD erstmals mitregierten. Sozialdemokarten und Grüne beschlossen den Ausstieg, damals gegen heftigen Widerstand von CDU und CSU. Aber auch die Konservativen dachten bald um: Nach der Katastrophe im japanischen Fukushima im März 2011 kam Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zu dem Schluss: Die Kernenergie ist in Deutschland nicht mehr mehrheitsfähig. Merkels Regierung wollte das endgültige Aus. Im März 2023 wurde der letzte Reaktor in Deutschland abgeschaltet.
Die CDU will wieder Neubauten
Heute gibt es immer wieder Forderungen in der deutschen Politik, neue Reaktoren zu bauen. So sagte etwa der Vorsitzende der CDU, Friedrich Merz, die Abschaltung der letzten Reaktoren sei ein "schwarzer Tag für Deutschland" gewesen. Auch die bayerische Schwesterpartei der CDU, die CSU, sprach sich vor kurzem für eine Renaissance der Atomkraft aus. Die alten Meiler sollten wieder ans Netz genommen und neue gebaut werden.
Der Klimaschutz und die steigenden Öl- und Gaspreise nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine machten das notwendig: "Es braucht jetzt einen Kurswechsel", so CDU-Chef Merz. Diesen beschloss seine Bundestagsfraktion in der "Heidelberger Erklärung" Mitte Januar. Die CDU will auch die zuletzt stillgelegten drei Kraftwerke wieder ans Netz bringen, obwohl der Rückbau dort bereits begonnen hat.
Die Reaktion der Energiekonzerne in Deutschland ist zurückhaltend. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) sagt dazu: "Die Energieversorger haben sich lange vorher neu ausgerichtet und wiederholen bis heute ihre Absage an die Atomkraft in Deutschland. Bei der Atomkraft handelt es sich um eine Hochrisikotechnologie, deren radioaktiven Abfälle noch Jahrtausende strahlen und vielen Generationen Sorgen bereiten werden."
Zahl der Reaktoren seit vielen Jahren fast konstant
Derzeit gibt es weltweit 412 Reaktoren in 32 Ländern; die Zahl ist seit vielen Jahren mehr oder weniger konstant. Länder wie China, Frankreich und Großbritannien haben zwar Neubauten angekündigt, bleiben aber hinter den Erwartungen zurück. Viele Reaktoren werden aus Altersgründen abgeschaltet. Einzelne Staaten wollen kleine, moderne Reaktoren bauen. Nach Ansicht von Smital aber wohl nicht für die Energiegewinnung: "Einer davon ist in Nordkorea. Und der produziert das ganze Nuklearwaffen-Potential für das Land. Die Wirtschaftlichkeit ist dabei unwichtig. Bei diesen kleinen, oft mobilen Reaktoren sehe ich eine große Gefahr."
In Deutschland bleibt ein brisantes Problem aus der Atomzeit: Wohin mit dem gefährlichen Atommüll? Bislang wird er oft zwischengelagert; nicht selten in direkter Nähe der Atomkraftwerke. Wo könnte der Müll endgelagert werden?
Dagmar Dehmer ist die Sprecherin der staatlichen "Bundesgesellschaft für Endlagerung" in Peine in Niedersachsen. Sie weiß: Ein Endlager will niemand gern in seiner Nachbarschaft, und zunächst muss die Behörde nach geeigneten Standorten suchen, eine Auswahl treffen, Probebohrungen in Auftrag geben. Wie hoch werden die Kosten sein? Wann wird das unterirdische Lager fertig?
Endlagerkosten: 5,5 Milliarden Euro?
Dehmer sagt der DW: "Ich kann weder das eine noch das andere im Moment abschätzen. Es könnten vier bis zehn oder sogar noch mehr Regionen sein, die wir erkunden müssen. Allein eine Bohrung kostet einen einstelligen Millionenbetrag. Und die Auswertung kostet auch rund fünf Millionen Euro." Die Behörde selbst schätzt, ein Lager könne nicht vor 2046 fertig sein. Andere Experten rechnen die gesamten Kosten auf rund 5,5 Milliarden Euro hoch.
Also keine Renaissance der Kernenergie? Umweltministerin Lemke meint, vor allem die schlechte Wirtschaftlichkeit spreche heute gegen die Atomkraft: "Es gäbe keinen Stromkonzern, der in Deutschland ein Atomkraftwerk bauen würde. Allein schon, weil die Kosten viel zu hoch wären. Weltweit können Atomkraftwerke nur mit massiver offener und versteckter Subventionierung wie der zumindest teilweisen Freistellung von der Versicherungspflicht gebaut werden." Die Geschichte der Atomkraft scheint in Deutschland erst einmal zu Ende zu sein.