Deutschlands Sozialsysteme vor dem Kollaps?
15. August 2013Deutschland ist ein Sozialstaat, so legt es das Grundgesetz in den Artikeln 20 und 28 fest. Was das heißt, das zeigt ein Blick auf den Bundeshaushalt. Mit rund 145 Milliarden Euro ist in diesem Jahr knapp die Hälfte des Etats für die Bereiche soziale Sicherung, Familie, Jugend und Arbeitsmarktpolitik veranschlagt. In Zukunft werde diese Summe allerdings nicht mehr ausreichen, meint der Paritätische Gesamtverband.
In einer Studie hat der Dachverband von über 10.000 Organisationen und Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitsbereich eine Modellrechnung aufgestellt und einen Mehrbedarf von 35 Milliarden Euro pro Jahr festgestellt. "Ohne gezielte und deutliche Investitionen wird der Sozialstaat von heute in Zukunft nicht mehr funktionieren", warnt Rolf Rosenbrock, der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbandes. Hochgerechnet auf die kommende Legislaturperiode seien rund 142 Milliarden Euro nötig, so Rosenbrock bei der Vorstellung der Studie in Berlin.
Nackte Existenzbedürfnisse
Auf acht sozialpolitischen Feldern sieht der Spitzenverband der freien Wohlfahrtspflege dringenden Handlungsbedarf. "Es geht hier um das absolut notwendige Minimum, nicht um einen Wünsch-Dir-Was-Katalog", so Rosenbrock. Laut der Studie müsste der Hartz-IV-Regelsatz von derzeit 382 Euro auf 464 Euro erhöht werden. Für den Gesamtbereich Existenzminimum und Vermeidung von Altersarmut wird ein jährlicher Zusatz-Bedarf von 6,1 Milliarden Euro festgestellt.
Für bezahlbare Mieten und den Energieverbrauch sollen jährlich 5,2 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Der Bereich Pflege schlägt laut Studie mit zusätzlichen 8,7 Milliarden Euro zu Buche. "Hier geht es um nackte Existenzbedürfnisse - um Notwendigkeiten zur Erhaltung des Lebensstandards und damit auch zur Erhaltung des Wirtschaftsstandorts Deutschland", so Rosenbrock.
Auch die Parteien sehen Reformbedarf
Mit seinen Forderungen sieht sich der Verband grundsätzlich auf einer Linie mit den Wahlprogrammen der im Bundestag vertretenen Parteien. Alle der in der Studie genannten Felder kämen in praktisch allen Parteiprogrammen vor. Genaue Zahlen würden aber nicht genannt, so Rosenbrock.
"Daher finden wir, dass die Wahlprogramme in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht das aus unserer Sicht erforderliche Kriterium der Ehrlichkeit erfüllen." Wer im Bundestagswahlkampf Reformen fordere oder Wahlversprechen abgebe, der müsse laut Rosenbrock dazu stehen, dass diese Geld kosteten. "Er muss die Kosten beziffern und er muss sagen, woher das Geld zur Finanzierung der Reformen kommen soll."
Reiche sollen zahlen
Für den Paritätischen Gesamtverband ist es keine Frage, dass Sozialreformen ausschließlich über Steuererhöhungen finanziert werden sollten. "Sind die Ressourcen da? Kann man in diesem Lande umverteilen, ohne irgendjemandem in seinem Wohlstand ernsthaft wehzutun? Die Antwort auf diese Frage ist ein klares Ja!", so Rosenbrock.
SPD und Grüne hätten mit ihren Vorschlägen zur Einführung einer Vermögensabgabe, zur Erhöhung der Erbschaftssteuer und des Spitzensteuersatzes und zur Einführung einer Börsentransaktionssteuer doch schon gezeigt, dass Zusatzeinnahmen im dreistelligen Milliardenbereich möglich seien. "Vor einigen Jahren hätte man sich noch nicht vorstellen können, mit welcher Leichtigkeit man heute solche Beträge einnehmen könnte. Jetzt sind sie im Raum und sie sind darstellbar."
Wenn zusätzlich der Steuerbetrug bekämpft werde, der von der deutschen Steuergewerkschaft auf 40 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt wird - von der OECD gar auf 168 Milliarden Euro pro Jahr - dann gebe es noch größere Spielräume.