Das übergewichtige Europa
18. Mai 2013Seit Jahrzehnten schon wächst in allen EU-Mitgliedsstaaten das Problem des starken Übergewichts. Die Vereinten Nationen und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schlagen Alarm: Massives Übergewicht breite sich zu einer Epidemie aus, heißt es in dem gemeinsamen Bericht.
Ungarn führt die europäische Statistik an, dicht gefolgt von Großbritannien, Irland und Malta. In diesen Ländern leidet fast jeder vierte Bürger unter besonders starkem Übergewicht. Für die Gesellschaft entwickelt sich die Adipositas, auch Fettleibigkeit genannt, zu einem hohen Kostenfaktor in der Gesundheitsversorgung.
EU muss abspecken
Die Europäische Kommission sieht Handlungsbedarf. "Auch wenn die Gesundheitspolitik in der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedsstaaten liegt, so will die EU-Kommission gemeinsam mit den EU-Ländern das Problem der Adipositas bekämpfen", sagt Reinhard Hönighaus, Sprecher der deutschen Vertretung der Europäischen Kommission. Die EU-Kommission stelle die finanziellen Mittel zur Verfügung, um Projekte zur gesunden Ernährung zu fördern. Bekannte Aktionen sind das Verteilen von Schulobst oder Schulmilch. Jährlich findet am dritten Samstag im Mai der "European Obesity Day" statt. Zahlreiche Veranstaltungen stellen an diesem Tag das Problem der Fettleibigkeit in den Vordergrund. Ihren Schwerpunkt setzt die EU-Kommission auf die Ernährungserziehung bei Kindern. "Sie sind am ehesten empfänglich für Aktionen und Informationen zu gesunder Ernährung. Das führt zu einer nachhaltigen Veränderung der Essgewohnheiten", so Hönighaus.
"Soziales Umfeld fördert Adipositas"
"Aufklärungs- und Informationsarbeit allein reicht in einem adipogenen - also einem Übergewicht fördernden - Umfeld nicht aus", sagt Stefanie Gerlach, Sprecherin der Deutschen Adipositas Gesellschaft. Die ansteigenden Zahlen adipöser Erwachsener in Deutschland zeigten, dass andere Herangehensweisen nötig seien, um Fettleibigkeit einzudämmen. Wenn es immer leichter sei, sich ungesund zu ernähren, weil Verfügbarkeit oder Auswahlmöglichkeiten gesunder Lebensmittel eingeschränkt seien, entstünden leichter ungesunde Verhaltensweisen. "Wer gesünder leben will, muss dann immer mehr Energie aufwenden, um sich gegen das krankmachende Umfeld zu wehren und zu schützen - das ist auf Dauer schwer", sagt die Ernährungswissenschaftlerin. In Deutschland gebe es seit Jahrzehnten unterschiedliche Initiativen gegen Übergewicht, doch ein positiver Effekt zeige sich nicht.
Die Ernährungswissenschaftlerin berät Menschen, die ihr Gewicht reduzieren oder ihre Essgewohnheiten auf eine gesunde Ernährung umstellen möchten. Sie weiß, wie schwer es für Patienten ist, das überflüssige Gewicht wieder zu verlieren: "Wer einmal übergewichtig ist, der hat auch ein erhöhtes Risiko, schweres Übergewicht zu entwickeln."
Adipositas: Eine Frage der Definition
Übergewicht und Fettleibigkeit sind ernstzunehmende Gesundheitsprobleme. Als internationaler Vergleichswert gilt für Erwachsene der Body-Mass-Index (BMI). Dieser berechnet sich aus dem Körpergewicht in Kilogramm dividiert durch das Quadrat der Körpergröße (in Metern). Ist der errechnete Wert größer oder gleich 25, gilt das Körpergewicht als Übergewicht. Ein BMI über 30 definiert die Adipositas.
"Aus medizinischer Sicht handelt es sich bei einem BMI über 30 um eine behandlungsbedürftige Krankheit. Gesundheitspolitisch ist die Einordnung nicht eindeutig. Da gilt Adipositas häufig nur als Risikofaktor für die Entstehung weiterer Krankheiten", sagt Stefanie Gerlach. Unstrittig ist aber, dass Adipositas bei entsprechender Veranlagung chronische Krankheiten wie Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes oder bestimmte Krebsarten begünstigt.
Einfache Kennzeichnung von Nährwerten gefordert
Reinhard Hönighaus sieht gerade bei Kindern einen erhöhten Handlungsbedarf für die EU-Kommission. "Die Übergewichtsproblematik in Europa ist nach wie vor ein wachsendes Problem. Es gibt Schätzungen, dass die Zahl der Übergewichtigen um eine Million im Jahr ansteigt - gerade bei Kindern. Das kann uns nicht zufrieden stellen." Durch Werbung und Marketing würde die Ernährungsweise, gerade von Kindern, sehr stark beeinflusst. Ein Schritt zur besseren Aufklärung sieht Reinhard Hönighaus in der Kennzeichnungspflicht von Nährwerten. Die EU-Kommission hat bereits durchgesetzt, dass Richtwerte für die Tageszufuhr von Kalorien auf den Verpackungen verbindlich angegeben werden müssen.
Stefanie Gerlach befürwortet ein Verbot für an Kinder gerichtetes Marketing für dickmachende Lebensmittel und eine leicht verständliche Nährwertkennzeichnung. "Wir haben Produkte, die überladen sind mit Informationen oder Nährwerttabellen. Trotzdem wissen die Menschen nicht, was sie mit diesen Informationen anfangen sollen." Was fehle, sei eine strukturierte Kombination von Verhaltensprävention und gesunder Gestaltung des eigenen Umfelds. Nur so könne das Problem angegangen werden.
Von der Hungersnot zur Fettleibigkeit
Dem Bericht der WHO zufolge ist Fettleibigkeit eine der größten Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. In Entwicklungsländern könne sich das Problem verschlimmern, wenn es kalorienreiche und mineralienarme Lebensmittel günstig zu kaufen gibt. Die Bevölkerung würde dann von einer Unterernährung in einen Zustand der Fehlernährung bis hin zur Fettleibigkeit übergehen. Die WHO plädiert deshalb dafür, die Ernährungsaufklärung in die UN-Entwicklungsziele aufzunehmen.
"Es wäre zu wünschen, wenn in andern Ländern nicht die gleichen Fehler gemacht werden wie in Europa. Zivilisationskrankheiten sollten nicht einfach ihren Lauf nehmen, ohne dass man bei Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten dagegen steuert", sagt Reinhard Hönighaus.