Die Baller-Show von Rio
17. August 2018"Für die Leute außerhalb der Favela ist es ein Action-Film", sagt Eric Martins. "Aber für uns ist es ein Zirkus. Und manchmal wird die Hölle daraus." Der 29-jährige Martins ist Englischlehrer und Mitglied von Rocinha Resiste, eine Gruppe junger Menschen, die sich nach der Intervention des brasilianischen Militärs in Rio de Janeiro gegründet hat. Man diskutiert Sicherheitsfragen und versucht, auf Machtmissbrauch von Polizei und Militär in der Rocinha, Rios größter Favela, aufmerksam zu machen.
Seit das brasilianische Militär vor sechs Monaten das Kommando über Rios Sicherheitsapparat übernommen, wurde Rocinha immer wieder Ziel von Armee-Einsätzen. Die Regierung rechtfertigte den Militäreinsatz mit dem Argument, die Kriminalität in der Millionenstadt sei drastisch angestiegen und die schlecht ausgestattete und korrupte Polizei von Rio verliere immer weiter die Kontrolle. Umgerechnet 280 Millionen Euro machte Brasília für den Einsatz locker.
Explosionen und Schüsse im Morgengrauen
Vor sechs Monaten rückten Panzer auf Rios Straßen vor, und Soldaten in Tarnuniformen und mit Gewehren im Anschlag in die Favelas ein. Sie rissen Barrikaden der Drogengangs ab, machten Hausdurchsuchungen und kontrollierten wahllos die Ausweise von Bewohnern. Auch in Rocinha wurden Checkpoints eingerichtet, es gab Schusswechseln mit den Drogendealern. "Aber geändert hat sich nichts", sagt Martins. "Es eine Show für Brasiliens Mittelschicht ohne Respekt für uns Bewohner."
Martins erzählt, die Operationen kämen ohne jede Ankündigung. "Wir wachen im Morgengrauen schweißgebadet von Helikopterlärm, Explosionen und Schüssen auf. Wir kommen nicht zur Arbeit oder zur Schule. Und am Ende präsentieren die Soldaten ein paar Kisten mit Feuerwerkskörpern", sagt Martins. Eine 15-jährige Cousine von ihm habe ein Paniksyndrom entwickelt. "Wir sind die Opfer einer gescheiterten Politik, der seit 30 Jahren nichts anderes einfällt als mit Gewalt auf komplexe Probleme zu reagieren."
"Kein Fortschrit bei der Sicherheit"
Die Zahlen bestätigen Martins Beobachtung. Ein halbes Jahr nach Beginn der Intervention hat die Studiengruppe Observatório da Intervenção ihre erste Bilanz vorgestellt. Sie wurde gegründet, um die Intervention kritisch zu begleiten. Die Daten kommen aus unterschiedlichen Quellen, die Koordination liegt bei der Universität Candido Mendes.
Ihr erster Bericht ist niederschmetternd: "Die wichtigsten Indikatoren für öffentliche Sicherheit sind weiterhin inakzeptabel", schreiben die Autoren. "Die Zahl der Morde und Massaker bleibt hoch. Wir verzeichnen außerdem einen Anstieg von Tötungen durch Polizisten und Schusswechsel. Die Konflikte zwischen Gangs und Milizen sind außer Kontrolle." Das Fazit des Bericht: Eine Sicherheitspolitik, die auf Kugeln, Truppen und Kriegsausrüstung setze, könne nicht zu den notwendigen Veränderungen in Rio führen.
'Schüsse aus Helikoptern
Ebenso fehlt es an Transparenz: "Nach sechs Monaten bleibt es schwierig, die Wege des Geldes zu verfolgen", schreibt die Beobachtungsgruppe. "Die duzenden Militäroperationen, bei denen im Schnitt 5000 Soldaten eingesetzt werden, haben nur wenige illegale Waffen zutage gefördert und die Gangs kaum beeinträchtigt." Jede einzelne Operation kostete laut dem Bericht umgerechnet 230.000 Euro.
Von ähnlicher Intransparenz sei auch die Polizeiarbeit selbst gekennzeichnet. Weder die vielen Morde noch die Fälle, bei denen Menschen durch Kugeln der Sicherheitskräfte gestorben seien, würden aufgeklärt.
Wie verschiedene Vorfälle der vergangenen sechs Monate zeigen, agieren die Sicherheitskräfte teil äußerst brutal: Soldaten und Polizisten feuerten aus Helikoptern in Favelas hinein. Ein Schüler wurde trotz seiner Schuluniform aus einem Schützenpanzer heraus erschossen. In Rocinha, der Favela von Eric Martins, wurden acht Männer während einer Polizeioperation regelrecht exekutiert.
Die Regierung bittet um Geduld
Trotz all dieser der Kritik stellt sich Verteidigungsminister Raul Jungmann hinter die Militärintervention. Während eines Besuchs in Argentinien sagte er: "Natürlich könnte es besser um Rio stehen. Aber die meisten wissen ja gar nicht, wie tief das organisierte Verbrechen Rio durchdrungen hat und wie kaputt der Polizeiapparat war." Jungmann bittet um Geduld. Sechs Monate seien zu wenig Zeit, um positive Resultate vorzuweisen.
Doch unter Rios Bevölkerung dominiert bislang der Eindruck, dass die Intervention ein Schlag ins Wasser ist. Diese Sicht wird auch von Soldaten und Polizisten geteilt. Einige Beamte beklagen, dass es keine Aufklärungsarbeit gebe, bei der festgestellt würde, wo bestimmte Kriminelle sich aufhielten. Und ein Soldat gibt im Bericht zu Protokoll: "Die Intervention ist verlogen. Es gibt keine wichtigen Festnahmen, nichts. Es ist eine einzige Zeitverschwendung, eine PR-Aktion."
Auch Eric Martins, der Bewohner von Rocinha, meint, die Intervention sei ein Manöver von Präsident Michel Temer, um vom Versagen seiner Regierung abzulenken. "Und dann schickt man eben den Soldaten aus der Peripherie in den Kampf in die Favela. Es sind immer die Armen, die es ausbaden müssen."