Die Wut auf Kubas Straßen
17. Juli 2021Hat sich Kuba am 11. Juli verändert? Viele sind überzeugt, dass dem so ist. Tausende Menschen gingen an diesem Sonntag landesweit auf die Straßen und machten ihrem Unmut über die desolate Lage in dem sozialistischen Karibikstaat lautstark Luft. Die Demonstranten riefen "Freiheit", "Nieder mit der Diktatur" und "Patria y vida" (Vaterland und Leben), eine Abwandlung des berühmten Revolutionsslogans "Vaterland oder Tod".
Die Proteste begannen in San Antonio de los Baños rund 35 Kilometer südöstlich der Hauptstadt Havanna und schwappten rasch auf weitere Städte der Insel über. Vor allem soziale Medien trugen dazu bei. In einigen Orten kam es zu Plünderungen, es kursierten Bilder von einem zerstörten Streifenwagen der Polizei.
Nicht mit anderen Ländern in Lateinamerika vergleichbar
Weit gewaltsamere Proteste haben in den vergangenen Monaten auch andere Länder Lateinamerikas erschüttert, doch im autoritär regierten Kuba hatte dieser Tag der Wut eine besondere Dimension. Jede Form der öffentlichen Meinungsverschiedenheit ist im sozialistischen Einparteiensystem seit langem geächtet, sporadische Proteste von kleinen Dissidentengruppen vermochte das Regime jeweils schnell zu unterbinden.
Auslöser der Massenproteste vom Sonntag sind aber die akute Wirtschaftskrise und die derzeit katastrophale Versorgungslage im Land. Es mangelt an Medikamenten und auch an Grundnahrungsmitteln, sogar für Reis und Bohnen müssen die Menschen stundenlang vor den Läden anstehen. Stundenlange Stromausfälle gehören zum Alltag, vor allem außerhalb Havannas ist die Lage inmitten des drückend heißen karibischen Sommers prekär.
Diese verzweifelte Lage habe den Menschen die Angst genommen und nun gebe es kein Zurück mehr, glaubt der regierungskritische Journalist Reinaldo Escobar. "Kuba hat sich verändert und sie (die Machthaber) wissen das", schreibt er in seiner Online-Zeitung 14YMedio.
Venezuela und Corona zwingen Kuba in die Knie
An Engpässe sind die Kubaner seit langem gewöhnt, die Lage hat sich aber seit Jahren verschlechtert. Das hat unterschiedliche Gründe. Zum einen verschärfte die Regierung des frühere US-Präsidenten Donald Trump die Sanktionen des seit den 1960er Jahren bestehenden Wirtschaftsembargos gegen Kuba und machte die Annäherungspolitik seines Vorgängers Barack Obama rückgängig. Zum anderen hat der wirtschaftliche Kollaps Venezuelas - Kubas wichtigster politischer Verbündeter und Handelspartner - die ohnehin schwer gebeutelte kubanische Volkswirtschaft zusätzlich getroffen.
Letztlich zwang die Corona-Krise das Land in die Knie. 2020 brach der Tourismus, eine von Kubas wichtigsten Devisenquellen, laut offiziellen Zahlen um 76 Prozent ein. Schließlich stieß das früher oft gefeierte und heute chronisch unterfinanzierte kubanische Gesundheitssystem an seine Grenzen. In den Krankenhäusern der Provinz Matanzas kam es laut mehreren Berichten zum Kollaps.
Havanna reagiert mit Härte
Die Regierung von Miguel Díaz-Canel antwortet auf die Proteste vor allem mit Repressionen. Es gibt viele Berichte über Festnahmen, junge Demonstranten sollen von Sicherheitskräften gewaltsam aus ihren Wohnungen gezerrt worden sein. Für Aufsehen sorgten Bilder einer YouTube-Aktivistin, die während eines Live-Interviews mit einem spanischen Fernsehsender sichtlich betroffen erzählte, dass gerade Polizisten vor ihrer Tür stünden, bevor sie aus dem Raum verschwand. Amnesty International berichtet von 130 bis 190 Menschen, die in Gewahrsam genommen worden oder an einem unbekannten Aufenthaltsort seien.
Nach den überraschend heftigen Protesten vom Sonntag schaltete das Regime zeitweise das Internet ab, der Zugang funktioniert auch jetzt nur mit Einschränkungen. Es ist schwer zu beurteilen, in welchem Ausmaß die Proteste noch weitergehen. Am Montag wurde der Tod eines Menschen im Süden Havannas bestätigt.
Alte politische Reflexe
Díaz-Canel beschuldigt die USA, soziale Unruhen auslösen zu wollen, die "in eine Militärintervention führen" würden. Zuvor hatte er die Regime-Anhänger zum "Kampf" gegen die Unruhestifter aufgefordert. "Wir rufen alle Revolutionäre dazu auf, auf die Straßen zu gehen und die Revolution an allen Orten zu verteidigen."
Der Vorwurf einer vermeintlich ausländischen Finanzierung von Oppositionsgruppen ist üblich in Havanna. Für das Argument mag es vor allem in den ersten Jahren nach der Revolution von 1959 gute Gründe gegeben haben, tatsächlich wird es aber seit langem ohne jegliche Anhaltspunkte für die Verfolgung von Andersdenkenden benutzt. Díaz-Canel hatte im Oktober 2019 die Macht und den politischen Kurs von seinem Vorgänger Raúl Castro übernommen, als der Bruder des verstorbenen Revolutionsführers Fidel Castro hochbetagt in den Ruhestand ging.
Trotz aller Härte hat die Regierung nun kleine Lockerungen bei den strikten staatlichen Kontrollen angekündigt in dem Versuch, die angespannte Versorgungslage zu entspannen. Ab Montag dürfen Reisende, die nach Kuba kommen, Medikamente, Lebensmittel und Produkte des täglichen Bedarfs ins Land einführen. Die Maßnahme, die bis Jahresende gilt, dürfte aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein sein.
Rückkehr zum Obama-Kurs?
Reformkräfte in Kuba fordern seit langem echte große Wirtschaftsreformen, die weit über den zaghaften Öffnungskurs der vergangenen Jahre hinausgehen. Die letzte große Gelegenheit verpasste die Regierung nach der großen Charmeoffensive von Barack Obama, der viele Wirtschaftssanktionen gelockert und die Reisen von US-Bürgern und Kuba-stämmigen Amerikanern auf die Insel erleichtert hatte, um durch Annäherung einen allmählichen demokratischen Übergang zu ermöglichen.
Seit dem Wahlsieg von Joe Biden 2020 hofft die Regierung in Havanna, der neue Präsident werde nach den harten Trump-Jahren die Politik Obamas schnell wiederbeleben. Bislang hat sich Biden mit seiner versprochenen Überprüfung der US-Kuba-Politik aber Zeit gelassen. Setzt der frühere Vize von Obama darauf, dass Kuba diesmal Zugeständnisse macht?
Anfang der Woche hatte jedenfalls eine Sprecherin des Weißen Hauses mögliche Schritte angedeutet, wenn dies "zu einem anderen Verhalten" der Machthaber in Havanna beitragen könne. Am Donnerstag sprach sich aber der Präsident selbst gegen die Möglichkeit aus, wieder Geldüberweisungen aus den USA nach Kuba zu erlauben. "Es wäre dann wahrscheinlich, dass das Regime alles oder einen Teil dieser Gelder konfisziert", sagte Biden, der zugleich mögliche Impfstofflieferungen in Aussicht stellte - aber nur wenn eine internationale Organisation die Vakzine in Kuba verabreichen könne.