Die zwiespältige Geschichte des Erdglobus
11. August 2023Als Kind lieferte mir ein Globus noch vor Schuleintritt eine erste Vorstellung von unserem Planeten. Die von meinem Vater angeschaffte, drehbare Erdkugel war aus Plastik und konnte von innen leuchten. Was von beidem - ein möglicher Lerneffekt oder die Funktion als Nachtlicht - seine Kaufentscheidung einst geleitet haben mag, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit sagen. Der Globus nahm mir als Lampe abends in jedem Fall die Angst vor dem dunklen Flur.
Des Tags traf ich mich gelegentlich mit meinem Vater davor und ließ mir zeigen, wo wir lebten. Er deutete auf einen Punkt, der nicht von Türkis umgeben war. Türkis, so viel wusste ich schon, stand für das Meer. "Und wo lebt Mutter Teresa?" Damals interessierte mich brennend, wo Persönlichkeiten ihresgleichen zu finden wären. Vermutlich tippte er dann, den Globus drehend, auf Indien.
Doch damit alle Länder und Meere überhaupt kartografisch korrekt auf Globen abgebildet werden konnten, musste die Welt erst erkundet werden. Die Geschichte der präziser werdenden Erdgloben ist eng verwoben mit den Entdeckungen der Seefahrer ab dem 15. Jahrhundert - und auch mit den Schattenseiten der einsetzenden Kolonialisierung und der zunehmenden Globalisierung.
Ältester erhaltener Erdglobus stammt aus Deutschland
Auf dem ältesten erhaltenen Modell eines Globus' fehlen Amerika und auch Australien noch. Bei der gut einen halben Meter im Durchmesser großen Erdkugel handelt es sich um den Behaim-Globus. Er steht heute im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg. Erst kurz nach dessen Fertigstellung in den Jahren 1492/93 entdeckte der aus Italien stammende Christoph Kolumbus Amerika, womit die neuzeitliche Globalisierung ihren Anfang nahm. Australien erreichte der britische Seefahrer James Cook mit seiner Besatzung erstmalig 1770 - knapp 300 Jahre später.
"Was man gut erkennen kann und was sehr präzise dargestellt ist, ist Zentral- und Südeuropa, der Mittelmeerraum und Afrika. Je weiter man von dieser Region weggeht, umso schwammiger wird es", beschreibt Sonja Mißfeldt, Pressereferentin des Germanischen Nationalmuseums, den Behaim-Globus. In diesem Jahr wurde er als ein herausragendes Zeugnis von der damaligen Vorstellung der Welt in das internationale UNESCO-Register "Memory of the World" aufgenommen.
Seine Auszeichnung als Weltdokumentenerbe stellt für Jan Mokre, Direktor des Globenmuseums der österreichischen Nationalbibliothek in Wien, auch eine Würdigung der Bemühungen von Museen dar, derartige wertvolle historische Objekte des kulturellen Erbes zu erhalten, sie wenn nötig fachgerecht restaurieren zu lassen und sie Besuchern zugänglich zu machen.
Behaim-Globus: Dokument des damaligen (Nicht-)Wissens
Der Behaim-Globus besteht aus verschiedenen Materialien. Die innen hohle Kugel ist mit bemaltem Papier umspannt - für Sonja Mißfeldt ein "Pionierwerk der Kartografie". Ein Gestell aus Schmiedeeisen hält den von einem Horizontring aus Messing umgebenen Globus, der einst gedreht werden konnte. Viele Menschen waren an seiner Anfertigung beteiligt. Martin Behaim, der aus einer Nürnberger Patrizierfamilie stammte, hatte den Globus in Auftrag gegeben. Warum, ist nicht ganz klar. Möglich, dass mit dem damals im Rathaus ausgestellten Exemplar Sponsoren für den globalen Handel gewonnen werden sollten. Behaim war selbst ein reisender Händler, der in den 1480er-Jahren an Erkundungsfahrten entlang der Küste Afrikas teilgenommen haben soll.
Auf dem Globus aufgebracht sind neben Land- und Wassermassen auch Angaben zu fremden Völkern, exotischen Tieren und zu Rohstoffvorkommen. Vermerkt wurden sogar Orte, an denen Güter wie Gewürze gewonnen werden könnten. Außerdem sind Figuren abgebildet, die an Fabelwesen erinnern. Die Schattenfüßler, auch Skiapoden genannt, sind dafür ein Beispiel. Laut Sonja Mißfeldt handelt es sich um eine damals populäre Überlieferung von in entlegeneren Regionen in Afrika lebenden Menschen mit nur einem Bein und einem großen Fuß, der, nach oben gereckt, vermeintlich Schatten spenden konnte.
Weltdokumentenerbe und Mahnmal für afrikanische Sklaven
"Der Behaim-Globus ist ein Objekt, das quasi zwischen den Zeiten steht. Es repräsentiert eigentlich vom Bild her das mittelalterliche Bild, das sich die Europäer von der Erde gemacht hatten, und deutet noch gar nicht in die neue Zeit hinein", erläutert Mokre. Eine Zeit, in der die Europäer die Vormachtstellung in der Welt anstrebten - gerade durch Entdeckungen unbekannter Länder und Erdteile, deren Rohstoffe sie erbeuteten und deren Einwohner sie zu Sklaven machten und um die halbe Welt verschifften.
Für das Germanische Nationalmuseum ist der Behaim-Globus "heute deshalb ein Dokument unseres zwiespältigen europäischen Kulturerbes". Einerseits erinnere er "an die europäischen Eroberungen", andererseits sei er "ein Mahnmal für afrikanische Sklaven, die entscheidend an der Entstehung unserer modernen Welt beteiligt waren."
Von Erdgloben und anderen Globen
In der Zeit der Fertigung des Behaim-Globus' war man von serieller Produktion noch weit entfernt. Kugelförmige Modelle unserer Welt hatte es zwar schon seit der griechischen Antike gegeben, dennoch war die Herstellung jedes einzelnen Globus eine Herausforderung für die beteiligten Handwerker: "Man hatte keine vergleichbaren Systeme, an denen man sich orientieren konnte, sondern hat angefangen, sich zu überlegen, wie man anschaulich die Welt in 3D darstellen kann", so Sonja Mißfeldt vom Germanischen Nationalmuseum.
Der Begriff Globus steht heute synonym für ein Modell unserer Erde. Daneben gibt es aber auch Himmelsgloben und solche von anderen Planeten und dem Mond. "Zwischen 1520 etwa bis 1850 war es üblich, Erd- und Himmelsgloben als Paar herzustellen und als Paar zu verkaufen und als Paar aufzustellen. Dieser Dualismus ist sehr wichtig, weil ja eigentlich erst dieses Zusammenspiel den Kosmos repräsentiert", erklärt Globenexperte Jan Mokre.
Ein sehr markantes Modell, das Himmel und Erde zu vereinen sucht, ist der begehbare Gottdorfer Globus aus dem 17. Jahrhundert. Er misst knapp drei Meter im Durchmesser und zeigt von außen die Erde, innen den Himmel. Durch Wasserkraft angetrieben, konnte sich dieses berühmte, einst für eine Kunst- und Raritätenkammer angefertigte Objekt einmal um die eigene Achse drehen. Erd- und Himmelsgloben in Kombination gibt es auch in kleinerer Form. Im 18. Jahrhundert etwa waren billardkugelgroße Taschengloben beliebte Sammlerstücke.
Neuere Globen
Ab 1850 etwa wurde der Globus durch industrielle Fertigung zur Massenware. "Aber das Bedürfnis bürgerlicher Schichten, auch Globen im eigenen Wohn- und Arbeitsumfeld aufzubewahren, das ist ein bisschen älter", sagt Jan Mokre, der es auf das ausgehende 18. Jahrhundert zurückdatiert. Die Gründe sieht er in einer verbesserten Bildungssituation und darin, "dass das wirtschaftlich erstarkte Bürgertum sich unter anderem auch mit Wissen repräsentieren wollte." Globen waren neben Atlanten und Lexika Güter, die einen an Bildung interessierten Bürger ausweisen konnten.
Wer heute ein besonderes Modell unseres Planeten sehen möchte, bekommt im Industriedenkmal Gasometer Oberhausen Gelegenheit dazu. Dort hängt eine monumentale Skulptur der Erde mit einem Durchmesser von 20 Metern. Es ist ein Globus des Digitalzeitalters, der zur Ausstellung "Das zerbrechliche Paradies" gehört. Besucher erleben ihn aus der Weltraum-Perspektive von Astronauten. Durch auf ihn projizierte Satellitenbilder sehen sie nicht nur die Farben und die Kontinente der Erde, sondern auch den Fußabdruck, den der Mensch darauf hinterlässt - etwa durch Linien von Flugzeugen.
Die Ausstellung "Das zerbrechliche Paradies" im Gasometer Oberhausen läuft noch bis zum 26.11.2023.