Wird Deutschland zum "Einheitsstaat"?
15. März 2019Eigentlich sollte jetzt ein Wirbelsturm vor den Schülern der Klasse 9 aufziehen. Geografie-Lehrerin Christina Müller hat auf ihrem Smartboard, der digitalen Tafel vorne im Klassenzimmer, ein passendes Video aus dem Archiv der Internationalen Raumstation ISS ausgewählt. Thema heute: Naturereignisse. Doch zunächst ist Warten angesagt. "Das wird am WLAN liegen", sagt Müller und nutzt die Zeit, um ihre Schüler über Wolkenformationen abzufragen. Als das Video schließlich läuft, leitet sie fließend über zum Naturereignis Hurrikan.
Das Gymnasium Alleestraße in Siegburg im Rheinland ist eine Vorzeigeschule. An den Wänden im Treppenhaus reicht der Platz kaum für die vielen Auszeichnungen. Zuletzt wurde das Gymnasium als MINT-freundliche Schule geehrt, als Schule, die im Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik besonders viel leistet. Und trotzdem kein ruckelfreies Internet? 2019, in Deutschland, wo die Steuereinnahmen sprudeln wie Brausetabletten? Ja, das WLAN erreiche leider nicht immer alle Ecken des verwinkelten, denkmalgeschützten Schulgebäudes aus den 1960er Jahren, bestätigt Schulleiterin Sabine Trautwein. "Da sind wir leider noch nicht besonders gut ausgestattet. Das führt natürlich zu Unmut."
Der Digitalpakt kommt
Schuld daran ist der Föderalismus, sagen einige. Bildung ist laut Verfassung Sache der Länder, da kann der Bund nicht einfach Technik spendieren, nur, weil er gerade genug Geld übrig hat. "Kooperationsverbot" heißt das unter Verfassungsrechtlern. "Wir müssten stattdessen zu einem Kooperationsgebot kommen", meint dagegen Yvonne Gebauer, Bildungsministerin von Nordrhein-Westfalen (NRW). "Wir wollen natürlich die kulturelle Hoheit der Länder erhalten, aber Bildung ist eine gesamtstaatliche Aufgabe und deswegen benötigen wir die Gelder des Bundes", so die Politikerin der liberalen FDP im Gespräch mit der DW.
Diesem Ziel ist sie nun ein Stück näher gekommen. Der Bundesrat, die Vertretung der 16 Bundesländer, hat nach langer Diskussion an diesem Freitag (15.3.) das Grundgesetz geändert. Der Bundestag hatte dem bereits am 21. Februar mit der erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit zugestimmt. Damit ist der Weg frei für den sogenannten "Digitalpakt", mit dem der Bund die Schulen fünf Jahre lang mit fünf Milliarden Euro fördert.
Berlin mischt mit
Auch das Gymnasium Alleestraße in Siegburg kann mit Geld rechnen, für schnelles Internet, mehr Smartboards, Laptops und vielleicht auch Personal, das sich um die Technik kümmert. "Es darf nicht nur um das Equipment gehen", sagt Schulleiterin Sabine Trautwein. "Es muss ein Mehrwert für die Schüler entstehen. Und deshalb ist an die Gelder des Digitalpakts geknüpft, dass jede Schule ein Medienkonzept haben muss." An diesem Konzept arbeiten Trautwein und ihr Kollegium gerade, damit möglichst schnell Bundes-Gelder fließen können. 500 Euro pro Schüler sind vorgesehen.
Für Verfassungsrechtler Hans-Jürgen Papier, von 2002 bis 2010 Präsident des Bundesverfassungsgerichts, ist dieses Geld jedoch mit einer Hypothek belastet. Die Grundgesetzänderung stelle "einen weiteren Schritt in Richtung einer schleichenden Erosion der Bundesstaatlichkeit dar", sagt Papier im Gespräch mit der DW. "Und die Bundesstaatlichkeit gehört nun mal zu den sogenannten ewigen Verfassungsprinzipien Deutschlands."
Verwaltungsprovinz Nordrhein-Westfalen?
Im Grundgesetz ist nämlich unumstößlich festgelegt, dass Deutschland ein Bundesstaat ist und keine zentral gelenkte Republik. Bildung gilt dabei als Kern der Eigenstaatlichkeit der Länder. Der Staatsrechtler befürchtet "dass man Schritt für Schritt aus dem Bundesstaat Bundesrepublik Deutschland faktisch einen unitarischen Einheitsstaat macht." Die Bundesländer würden dann "salopp gesagt zu Verwaltungsprovinzen", so Papier weiter.
Das wäre ein Bruch mit der föderalen Tradition hierzulande. Bis 1871 bestand Deutschland aus zahlreichen Kleinstaaten. Selbst mit der Reichsgründung blieben sie in Fragen der Kultur- und Bildungspolitik selbstständig. Das änderte sich erst, als die Nationalsozialisten den deutschen Staat ab 1933 gewaltsam zentralisierten. Nach dem Krieg gaben die Westalliierten den Vätern und Müttern des Grundgesetzes deshalb den klaren Auftrag, einen Staat "föderalistischen Typs" zu schaffen.
Bund und Länder - eng umschlungen
Im Bundesrat traten ab Gründung der Bundesrepublik vor 70 Jahren denn auch selbstbewusste Länder zusammen, die sich vom Bund nichts vorschreiben lassen wollten. Seitdem wurde die Verfassung jedoch immer wieder reformiert. Bund und Länder haben ihre Zuständigkeiten verflochten wie in einer hochkomplexen Zopf-Frisur. Man ist voneinander abhängig, entscheidet vieles gemeinsam. Mit dem Digitalpakt wird nun ein weiterer Knoten geknüpft.
Das führe dazu, dass die Verantwortung für politische Missstände nicht mehr klar erkennbar sei, meint Papier. "Die Länder können nun sagen, die Fehlentwicklungen im schulischen Bereich beruhten darauf, dass sie zu wenig Geld vom Bund bekommen haben." Umgekehrt könne der Bund behaupten, die Länder hätten die Gelder nicht ordnungsgemäß ausgegeben. "Jeder kann im Grunde die Verantwortung auf die andere Ebene schieben. Und der Bürger kann mit seinem politischen Wahlrecht keine wirklichen Sanktionen mehr ausüben."
Die nächste Verhandlungsrunde wartet
Geht es nach NRW-Bildungsministerin Yvonne Gebauer, dann sollte dieser Weg weiter beschritten werden. "Der Bereich der Digitalisierung ist sehr schnelllebig, da werden wir mit den Geräten von heute übermorgen vielleicht schon museumsreif sein", sagt die FDP-Politikerin. "Die eine Milliarde Euro für Nordrhein-Westfalen ist eine Anschubfinanzierung, aber wir müssen uns natürlich um eine dauerhafte Finanzierung durch den Bund Gedanken machen und in Verhandlungen treten." Die Mehrheit der Bürger dürfte Gebauer dabei auf ihrer Seite haben. Laut Umfragen wären mehr als 50 Prozent der Deutschen sogar dafür, dem Bund gleich ganz die Kontrolle für Bildung und Schulen zu übertragen, Verfassung hin oder her.
Für die Schüler und Lehrer des Gymnasiums Alleestraße in Siegburg sind diese Fragen erst einmal weit weg. Für sie geht es darum, den Unterricht möglichst schnell so digital gestalten zu können, wie es ihr Alltag schon lange ist. Bis es soweit ist, setzt Geografie-Lehrerin Christina Müller auch auf die Smartphones, die all ihre Neuntklässler im Rucksack mit sich tragen. In der nächsten Unterrichtsstunde will sie weiter über Naturkatastrophen sprechen. Dazu sollen sich die Schüler eine Geografie-App auf ihr Handy laden. Dank Handynetz könnten sie dann unabhängig vom Schul-WLAN online lernen.