Transgender: Lilith ist am Ziel
27. September 2019Der Morgen vor dem großen Tag ist strahlend schön. Die Sonne lacht schon um kurz vor neun Uhr vom wolkenlosen Himmel. Lilith steht mit ihrem Koffer am Bahnhof. Um sie herum toben zwei kleine Jungs. Sie mag Kinder, wünscht sich, selbst irgendwann auch einmal eine Familie zu haben.
Lilith ist auf dem Weg in die Universitätsklinik Essen. In 24 Stunden wird sie hier auf dem OP-Tisch liegen. Für eine weitere Unterleibsoperation. Kosmetische Korrekturen. Schon vor ein paar Monaten stand sie einen siebenstündigen Eingriff durch, in dem die Ärzte aus Liliths Hodensack und Penis eine Vagina formten, um ihr Geschlecht anzugleichen.
Lilith trägt ein blaues Sommerkleid und ist perfekt geschminkt, sie legt Wert auf ihr Äußeres. "Ich bin ganz schön aufgeregt", gibt sie zu, als der Regionalzug einfährt. Eine Stunde dauert die Fahrt von Köln in die Ruhrgebietsstadt Essen. Dort endet für sie eine lange Reise, die vor 33 Jahren in Pakistan als Ali begann.
Der letzte Abend vor der OP
Seit über drei Jahren berichtet die Deutsche Welle immer wieder über Lilith und ihre Geschichte. Beim ersten Treffen im Frühjahr 2016 war sie körperlich noch ein Mann. Sie schluckte noch nicht täglich weibliche Hormone und Testosteron-Blocker, sah deutlich weniger feminin aus. Und sie nannte sich damals noch Alia. Mit einem schlichten A am Ende hatte sie aus ihrem männlichen Vornamen Ali einen weiblichen gemacht. Alia. Doch irgendwann entschied sie, dass sie sich ganz von der Person Ali lösen will. Seitdem ist sie Lilith. "Lilith, die Frau, die immer da war", so sagte sie einmal.
Lilith ist ein offener Mensch, sie geht frei mit ihrer Trans-Identität um. Nur vor ein paar Monaten, am Abend vor der ersten großen OP im Februar 2019, wollte sie mit niemandem reden. "Ich wollte ganz bewusst Abschied nehmen. Das war wie ein Ritual für mich. Ich habe Tschüss zu meinem alten Körper gesagt und Willkommen zu meinem neuen."
Es sei ein glücklicher Abschied gewesen, erinnert sie sich. Diese letzten Stunden mit Ali. "Das wird immer ein Teil meines Lebens sein. Aber Ali war wie eine Hülle, er war einfach nicht die richtige Person."
Trans-Frauen in Pakistan: gesellschaftlich geächtet
Dass sie nicht Ali sein konnte, das wusste Lilith schon als kleines Kind. Die Natur habe einfach einen Fehler gemacht, als sie ihr diesen Körper gab, meint sie. Eine gefährliche Erkenntnis in ihrem südasiatischen Heimatland. Die pakistanische Gesellschaft ist sehr konservativ und patriarchalisch geprägt. Pakistan ist eine islamische Republik, viele Menschen sind tief religiös. Ein Umfeld, in dem Themen wie Homosexualität oder Transgender weitgehend tabu sind.
Zwar werden Transfrauen auf Hochzeitsfeiern gern als Tanz-Attraktionen gebucht. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Betroffenen ein Leben am Rande der Gesellschaft führen. Sie werden auch immer wieder Opfer von Gewalttaten bis hin zu Mord. Wie die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch in ihrem World Report 2019 schreibt, gab es im vergangenen Jahr allein in der in der Provinz Khyber-Pakhunkhwa an der afghanischen Grenze fast 500 Angriffe auf Transfrauen. Mindestens vier wurden getötet.
Selbst von ihren eigenen Familien werden viele Transfrauen verstoßen, zu groß ist die Scham. Lilith hatte da großes Glück. Ihre beiden nächsten Menschen, ihre Mutter und ihre Schwester, hielten zu ihr. In Lahore, der zweitgrößten Stadt Pakistans, teilten sie ihr Leben und ihren Alltag mit dem Jungen, der zu Hause gerne Mädchenkleider tragen und sich schminken wollte. Der sich als Tochter und Schwester fühlte und nicht als Sohn und Bruder. Und der doch für alle Ali war und sein wahres Ich verstecken musste.
Neustart in Europa
Seit 2012 lebt Lilith mittlerweile in Deutschland. Sie kam, um hier zu studieren. Denn in Deutschland, so ihr Traum damals, würde sie ihre Sexualität endlich offen ausleben können: sich weiblich kleiden, im Alltag als Frau auf die Straße gehen. Die Entscheidung, ihr Geschlecht tatsächlich angleichen zu lassen, reifte im Laufe der nächsten drei Jahre.
Lilith studierte in Köln Umweltwissenschaften, machte vor zwei Jahren ihren Master-Abschluss. Mittlerweile fühlt sie sich "hier zu Hause", sagt sie in fließendem Deutsch auf der Zugfahrt nach Essen. Es habe ein paar Jahre gedauert, aber jetzt sei sie ganz angekommen.
Die deutsche Staatsangehörigkeit hat Lilith noch nicht, den entsprechenden Antrag will sie im kommenden Jahr stellen. Im Moment ist ihre Aufenthaltserlaubnis an ihren Job gebunden. Lilith arbeitet für den Lesben- und Schwulenverband Deutschlands und kümmert sich um homo- und transsexuelle Flüchtlinge.
Das Geld für den ersten Flug nach Deutschland bekam sie damals von ihrer Mutter. Die hatte dafür extra ein Stück Land verkauft. Bei jedem Interview sprach Lilith mit viel Liebe und Dankbarkeit über ihre Mutter. Doch ausgerechnet jetzt, kurz vor ihrer zweiten OP zur Geschlechtsangleichung, klingt ein trauriger Unterton mit.
Denn die Mutter, die nie etwas dagegen hatte, dass ihr als Sohn geborenes Kind sich schminkte und lebte wie eine Frau, tut sich schwer, Liliths finalen Schritt zu verstehen: "Mit der OP ist für meine Mama endgültig klar, dass sie jetzt eine Tochter und keinen Sohn mehr hat. Das ist nicht mehr rückgängig zu machen, und das ist für sie trotz allem schwer zu akzeptieren."
Lilith leidet darunter, aber sie versucht auch, sich in ihre Mutter hineinzuversetzen. "Sie kann diese Unzufriedenheit, diesen Hass auf den eigenen Körper, den ich hatte, einfach nicht nachvollziehen." Nach wie vor aber haben die beiden täglich Kontakt. Auch mit ihrer Schwester spricht Lilith oft. Die habe kein Problem damit, dass sie ihren Körper angeglichen hat. "Für sie bin ich einfach ihr Geschwisterkind. Egal, ob Bruder oder Schwester."
Steigende Zahl der Geschlechtsangleichungen in Deutschland
Einen Tag nach der ersten großen Operation postete Lilith am 19. Februar bei Facebook: "Ich kann dieses Gefühl nicht beschreiben. Ich fühle mich gerade wirklich wie Lilith." Und dann ist da dieser ganz große Augenblick. Als sie selber sehen darf, dass sie jetzt eine Frau ist. "Eine Ärztin hat mir einen Spiegel vorgehalten, und ich habe vor Freude nur noch geweint." Für Lilith bedeutet die Geschlechtsangleichung, endlich erreicht zu haben, was sie immer wollte. So empfindet sie es.
Die Kosten für eine Geschlechtsangleichung tragen die deutschen Krankenkassen. Jeder Einzelfall wird geprüft. Lillith ist eine von insgesamt 45 Transfrauen, die im ersten Halbjahr 2019 in der Essener Universitätsklinik operiert wurden. Die Nachfrage steige, teilt die Klinikleitung der DW mit. Im Jahr 2014 wurden 50 Frauen operiert, in den vergangenen beiden Jahren waren es bereits um die 80.
Bundesweit unterzogen sich im vergangenen Jahr mehr als 600 Männer einer geschlechtsangleichenden Operation, teilt das Bundesfamilienministerium der DW auf Anfrage mit. Umgekehrt ließen sich 2018 mehr als 1200 Frauen zum Mann operieren.
Körperliche und psychische Belastung
Es gibt Patientinnen und Patienten, die nach der Operation weiter mit ihrer Identität hadern. Doch Lilith würde alles jederzeit wieder genauso machen. Auch, wenn die ganze Prozedur auf dem Weg vom Mann zur Frau nicht einfach war: die täglichen Hormone, die Arztbesuche, die vorgeschriebenen psychiatrischen Begutachtungen, der bürokratische Marathon mit der Krankenkasse, bis die Behandlung schließlich genehmigt war, die extremen Schmerzen nach der ersten OP: "Es ist wie hunderte kleine Nadeln, die überall unter Strom stehen und zu Techno-Musik tanzen."
Über Wochen konnte Lilith weder richtig laufen noch sitzen. Und nicht einmal schmerzfrei liegen. An Schlaf sei kaum zu denken gewesen. Es kam auch zu einer Entzündung in ihrer neuen Scheide, und sie musste für eine Woche zurück ins Krankenhaus. "Irgendwann bist du einfach ganz schwach, nicht nur körperlich, sondern auch seelisch."
Und dann war da noch etwas: So sehr sie sich ihren neuen, weiblichen Körper immer gewünscht hatte - anfangs fühlte er sich trotzdem fremd an. Nicht wie ein Teil von ihr. "Ich konnte mich auch nicht berühren. Mein Gehirn war total durcheinander."
Das Ende der Suche
Dann, nach ungefähr sechs Wochen, habe es auf einmal Klick gemacht. "Das Gehirn hat plötzlich versucht, die Körperteile zuzuordnen. Die alten Teile sind ja gewissermaßen alle neu verbaut worden." Tatsächlich formen die Mediziner bei einer geschlechtsangleichenden OP vom Mann zur Frau die sogenannte Neovagina aus der nach innen gestülpten Haut des Penis und aus dem ehemaligen Hodensack. Die Klitoris wird aus der Eichel gebildet, die Schamlippen aus der Vorhaut.
Bei Lilith läuft auch bei der zweiten, kosmetischen OP in Essen alles nach Plan. Sie arbeitet längst wieder und ist ganz zurück in ihrem Alltag, der doch ein anderer ist als früher. Lilith selbst sagt es so: "Früher waren meine Seele und mein Körper getrennt. Die Seele hat immer versucht, den richtigen Körper zu finden."
Eine Sehnsucht allerdings bleibt. Gern würde Lilith irgendwann wieder nach Pakistan reisen. In die Heimat. Sie vermisst ihre Familie, sagt sie. Ihr fehlen die Berge des Himalaya, sie möchte wieder ihre Muttersprache Punjabi auf der Straße hören und das Essen ihrer Kindheit schmecken. Aber als Transfrau und dazu noch als bekennende Atheistin sei das im Moment viel zu gefährlich: "Ein 'niederes Wesen' wie ich hat keine Möglichkeit, in der pakistanischen Gesellschaft zu leben."
Trotzdem wird sie bald ihre Mutter und ihre Schwester treffen, "auf neutralem Boden, irgendwo auf der Welt, wo Männer und Frauen gleich viel wert sind". Wo genau, das möchte sie aus Sicherheitsgründen nicht sagen. Ihre Zukunft sieht sie in Deutschland: "Aber ich fühle mich weder als Deutsche noch als Pakistanerin", sagt Lilith. Sondern einfach nur als Mensch. Und als Frau.