Stonewall: Beginn eines globalen Aufbruchs
28. Juni 2019Wenn im Juli die Besucher der beiden deutschlandweit größten Christopher Street Days (CSDs) durch die Straßen von Berlin und Köln ziehen, werden die Regenbogenfahnen, Showtrucks und schrillen Kostüme mehr als sonst an eine Sommernacht in New York vor 50 Jahren erinnern.
In den frühen Morgenstunden des 28. Juni 1969 stürmte die Polizei das Stonewall Inn in der Christopher Street im New Yorker Stadtteil Greenwich Village. Die heruntergekommene Mafia-Bar war in dieser Zeit - Homosexualität galt noch als psychische Störung - Treffpunkt von oftmals nicht-weißen Schwulen, Lesben, Trans-Personen und Drag Queens. Obwohl die Gäste an die routinemäßige Schikane der Behörden gewöhnt waren, geschah das Außergewöhnliche: Sie setzen sich zur Wehr.
Die Auseinandersetzung zog tagelange Krawalle zwischen der homosexuellen Community und der Polizei nach sich und ging als wichtiger Katalysator der modernen Schwulen- und Lesbenbewegung in den USA in die Geschichte ein: Innerhalb weniger Monate gründeten Aktivistinnen und Aktivisten in New York und später im ganzen Land Organisationen, die sich die "homosexuelle Befreiung" auf die Fahne schrieben. Zum Jahrestag der Aufstände, dem "Christopher Street Liberation Day", zog die erste Gay-Pride-Parade durch den Big Apple.
Neues, radikales Selbstbewusstsein - von Finnland bis Japan
Tatsächlich hatten sich Homosexuelle schon vor den Aufständen organisiert - etwa in "Homophilen-Gruppen", die "so etwas wie Anerkennung für einen bestimmten homosexuellen Lebensstil in der Mehrheitsgesellschaft" erreichen wollten, wie Carina Klugbauer vom Schwulen Museum Berlin sagt.
Das Engagement nach Stonewall sei aber radikaler gewesen - "in dem Sinn, dass man sich nicht mehr um diese Anerkennung bemüht hat und ein anderer Stolz dahinter war. Das Coming-out als einer der bewegenden oder mittlerweile normalen Momente in einem LGBTIQ-Leben ist zum Beispiel ein Post-Stonewall-Moment", so Klugbauer, die die Ausstellung "Love at First Fight! Queere Bewegungen in Deutschland seit Stonewall" mitkuratiert hat. (Die Abkürzung LGBTIQ steht für "Lesbian Gay Bisexual Trans Intersex Queer")
Bald wurde der Kampf auch weit über die USA hinaus geführt. In den ersten Jahren nach den Aufständen in der Christopher Street schossen politische homosexuelle Gruppen und Organisationen etwa in Großbritannien, Finnland, Island und Deutschland, aber auch in Israel, Australien und Japan aus dem Boden. Die Vorgänge in New York spielten dabei nicht immer eine Rolle. "Ich glaube, dass es vor allem parallel laufende Bewegungen waren, weil man zumindest für die deutsche Geschichte zeigen kann, dass man 1969 und Anfang der Siebziger gar nicht so viel von den Stonewall Riots wusste", sagt Klugbauer.
Die Befreiungsbewegungen seien in einem ähnlichen politischen Kontext entstanden, aber durch unterschiedliche Ereignisse ausgelöst worden. "Bei Stonewall ist es der Versuch, sich gegen Übergriffigkeit der Polizei und gegen Polizeigewalt zu wehren. In Deutschland geht man ins Kino und gründet homosexuelle Emanzipationsgruppen", erklärt Klugbauer - und meint damit den westdeutschen Stonewall-Moment: Die Uraufführung von Rosa von Praunheims "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" auf der Berlinale 1971.
Zwei Jahre zuvor war der sogenannte Schwulenparagraph, § 175 des Strafgesetzbuchs, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, liberalisiert worden. Praunheims Film, der homosexuelles Leben in der Subkultur thematisierte und die Szene dazu aufrief, offen für ihre Rechte zu kämpfen, sorgte für Furore.
Im Windschatten der Studentenbewegung
Nach der Uraufführung gründeten Lesben und Schwule in ganz Deutschland politische Aktionsgruppen. In einer von ihnen engagierte sich Elmar Kraushaar. "Wir segelten im Windschatten der Studentenbewegung", erinnert sich der Journalist heute.
Anfangs hätten abstrakte Debatten um "unseren Platz als Homosexuelle in der Weltrevolution" die Tagesordnung bestimmt - bis man erkannt habe, dass diese im Widerspruch zu einem Leben im Versteck stehen. Es folgten: Selbsterfahrung, die Beschäftigung mit dem Schicksal von Homosexuellen im Nationalsozialismus, die Gründung von schwulen Kollektiven, Cafés, Kneipen, Verlagen und Buchläden. "Es ging vor allem um Sichtbarkeit, darum, sich ein Selbstbewusstsein und eine Stärke zu erarbeiten, die man auch nach außen kehren konnte", so Kraushaar.
Das kann Cristina Perincioli bestätigen. Die in Bern geborene Filmregisseurin und Autorin war in den frühen Siebziger Jahren in Berlin in der Lesbenbewegung aktiv. "Wir haben gesagt: Wir sind anders, wir wollen uns diskriminieren, wir wollen nicht lieb gehabt werden, wir wollen keine Ehe, wir finden Familie furchtbar. Das waren die Slogans”, sagt die heute 72-Jährige.
Ein nie dagewesenes, öffentlich demonstriertes Selbstbewusstsein - nur eine von mehreren Parallelen zur US-Bewegung. Ein intensiver Austausch zwischen Homosexuellen in beiden Ländern fand laut Carina Klugbauer aber erst Ende der Siebziger Jahre statt, als etwa in Deutschland die ersten CSDs nach dem Vorbild der Pride Parades veranstaltet wurden.
"Der Rückgriff auf Stonewall fing erst an, als man diese Massen in Amerika auf der Straße sah", sagt auch Elmar Kraushaar. "Da hat man plötzlich dieses Datum entdeckt. Man wusste aber nicht mehr als das, was man dazu in Deutschland in der Zeitung lesen konnte: Dass es das erste Mal war, dass sich Schwule massiv gegen die Polizei gewehrt haben, was in dieser Weise in keinem anderen Land stattgefunden hatte. Damit hat man dann sozusagen als symbolische Geschichte operiert."
"Alles danach war Kram"
Kraushaar und Perincioli haben alle wichtigen Fortschritte der Bewegung in Deutschland seit Stonewall miterlebt: Die erste Schwulendemo in Deutschland 1972 - ausgerechnet im frommen, konservativen Münster. Die Streichung des Paragraphen 175 im Jahr 1994. Die Einführung der Ehe für alle 2017.
Für Perincioli hat dennoch der Anfang der Emanzipation bis heute am meisten Gewicht - die Zeit "als die Frauen und Männer aus den Verstecken herausgekommen sind und sich getraut haben, sich in ihrem Dorf oder ihrer Kleinstadt zu outen." Es sei "unglaublich zentral, ob man zu seiner Identität stehen kann oder so tun muss, als sei man jemand anderes. Und das betrifft nun wirklich Millionen", sagt die Feministin. "Alles danach war Kram."
Und heute? "Die Themen und Kämpfe innerhalb der queeren Bewegung haben sich diversifiziert", sagt Carina Klugbauer. "Es gibt jetzt mehr Initiativen, die zum Beispiel Rassismus in der Bewegung thematisieren oder von People of Color mitgetragen werden. Es gibt viel mehr Trans-Aktivismus als noch vor 20 Jahren." Neben bürgerrechtlichem Engagement gebe es queerfeministische Gruppen, die etwa versuchten, "Geschlechterzuschreibungen und -rollen infrage zu stellen".
Diskriminiert wird weiterhin - auch in Europa
An anderer Stelle bleibt der Kampf existenzieller - trotz jüngster Erfolgsmeldungen wie der Entkriminalisierung von Homosexualität in Botswana und der Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe in Taiwan. Derzeit steht Homosexualität in 70 Ländern, die meisten davon in Afrika, unter Strafe.
Aber auch in Europa gibt es Grund zur Sorge. Die Nichtregierungsorganisation ILGA-Europe spricht von einem "zunehmend unsicheren und nicht nachhaltigen Umfeld für LGBTIQ-Organisationen und Menschenrechtler in einer wachsenden Anzahl von Ländern". Es gebe einen spürbaren Rückfall hinsichtlich der Gesetze und Richtlinien zum Schutz der Gleichstellung von LGBTIQ-Personen, etwa in Serbien, in Ungarn und in der Türkei.
Zuletzt sorgten aber auch homophobe Angriffe in Großbritannien und Österreich für Schlagzeilen. In Deutschland steigt die Zahl der Straftaten gegen LGBTIQ seit Jahren. "Wenn wir genauer hinhören, was Politiker und Kirchenvertreter sagen, merken wir: Unter der Oberfläche brodelt es immer noch", warnt Kraushaar. Gerade mit Blick auf die zum Teil LGBTIQ-feindliche Rhetorik von Rechtspopulisten könne man "nicht so tun, als ob wir uns jetzt ausruhen können."
Dass viele das nicht tun, zeigen die CSDs und Pride-Paraden in Köln, Berlin und unzähligen anderen Städten rund um die Welt. Zu den WorldPride-Feierlichkeiten, die 50 Jahre nach Stonewall den ganzen Juni über in New York stattfinden, wurden im Vorfeld mehr als drei Millionen Besucher erwartet.