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Semechin: Schwimmen trotz Chemotherapie

9. Juni 2022

Bei den Paralympics gewinnt Elena Semechin im vergangenen Jahr Gold. Es ist das erfolgreichste Jahr in der Karriere der fast blinden Schwimmerin. Doch dann bekommt sie eine Diagnose, die ihr Leben auf den Kopf stellt.

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Para-Schwimmerin Elena Semechin lächelt
Nach der Entfernung eines bösartigen Hirntumors kämpft sich Elena Semechin zurück in die WeltspitzeBild: Juergen Engler/nordphoto/picture alliance

Es ist die letzte Wende für Elena Krawzow - wie sie damals noch heißt - im Finalrennen über 100 Meter Brust bei den Paralympics in Tokio. Die fast vollständig blinde Schwimmerin hat rund eine Sekunde Rückstand auf die Britin Rebecca Redfern. Es ist spannend. Krawzow kämpft und kommt ihrer Konkurrentin immer näher. Erst auf den letzten Metern zieht die 27-Jährige vorbei und schlägt als Erste am Beckenrand an. Mit 0,64 Sekunden Vorsprung gewinnt die gebürtige Kasachin Gold.

Nach der Silbermedaille über dieselbe Strecke 2012 in London ist es ihr erster Sieg bei den Paralympics. "Das war die letzte Medaille, die mir noch gefehlt hat", erinnert sich die Athletin im DW-Interview. "Nach zehn Jahren harter Arbeit ist mir eine richtige Last von den Schultern gefallen." Zuvor hatte Krawzow bei Europa- und Weltmeisterschaften Titel gesammelt, zudem den Weltrekord auf ihrer Paradestrecke verbessert. Mit Gold bei den Paralympics aber ist die Schwimmerin auf dem Höhepunkt ihrer Karriere angekommen.

"Viele Sportlerinnen und Sportler fallen nach so einem Titel in ein Loch. Bei mir war das gar nicht so. Ich hatte eine wundervolle Zeit danach und habe es richtig genossen", berichtet sie. "Lediglich meine Kopfschmerzen, die mich geplagt haben, waren der Grund, warum ich nicht jeden Tag genießen konnte."

"Wann kann ich wieder trainieren?"

Krawzow lässt sich untersuchen und wartet auf eine Nachricht von ihren Ärzten. An dem Tag als sie die Diagnose bekommt, hat sie gemeinsam mit ihrem Verlobten gerade die Eheringe ausgesucht. Im Anschluss fährt sie zur MRT-Untersuchung. "Nach der ersten Diagnose war klar, dass irgendetwas nicht stimmt. Und nach einer weiteren Untersuchung wurde mir dann gesagt, dass da ein Hirntumor in meinem Kopf sei. Das war natürlich ein Schlag."

Elena Semechin bei der Siegerehrung der Paralympics in Tokio
Mit dem Sieg über 100 Meter Brust bei den Paralympics in Tokio feiert Elena Semechin ihren größten ErfolgBild: Marcus Brandt/dpa/picture alliance

Auf einmal sei das Leben ein anderes gewesen, erzählt sie. "Da war nichts mehr mit Freude, Glück oder Euphorie, sondern Angst und Unsicherheit. Ich wusste nicht, was auf mich zukommt." Krawzow sagt alle Termine ab und macht ihre Krankheit öffentlich. "Ich wollte das nicht verheimlichen. Ich wollte nicht, dass man mir komische Fragen stellt", sagt sie. "Das hat mir sehr geholfen. Ich hatte mich ganz gut im Griff und glaube, dass ich sehr gut damit umgegangen bin."

Anfang November, zwei Tage vor der Operation, heiratet Krawzow ihren langjährigen Trainer Philip Semechin und ändert ihren Nachnamen. Hochzeit und Operation markieren eine Wende im Leben der Leistungssportlerin. Und nachdem der Hirntumor aus ihrem Kopf entfernt wurde, geht der Blick auch gleich wieder nach vorne. Aufgeben war und ist für die mittlerweile 28-Jährige kein Thema. Sie will zurück ins Becken, so schnell wie möglich. "Nach der OP bin ich wach geworden und habe den Arzt sofort gefragt, wann ich wieder trainieren kann."

Training und Chemotherapie laufen parallel

Nur eine Woche später beginnt sie mit der Reha und der Chemotherapie. Zunächst trainiert Semechin, wie sie jetzt heißt, nur außerhalb des Schwimmbeckens, da die OP-Narbe noch nicht komplett verheilt ist. "Der Leistungssport hat mir in dieser Phase sehr geholfen, weil mein Körper es gewohnt ist, sich extrem zu belasten. Ich habe schon früh gelernt, was es bedeutet körperlich und mental an die Grenzen zu gehen. Davon profitiere ich sehr", sagt Semechin. Ihr Kampfgeist ist geweckt.

Gemeinsam mit ihrem Trainer und Ehemann passt sie ihre Trainingspläne an. Mehr Erholungsphasen, "damit ich mich nicht komplett zerstöre und die Chemo dann nicht mehr ertragen kann". Semechin muss mehr denn je auf ihren Körper hören. Denn die Zyklen der Chemotherapie verlaufen unterschiedlich. Manchmal könne sie mehr und manchmal weniger trainieren, sagt sie. "Diese Balance zu finden zwischen Erholung und Belastung und meinen sportlichen Ehrgeiz etwas herunter zu regulieren", sei die größte Herausforderung in der aktuellen Situation.

Elena Semechin schwimmt bei den Deutschen Meisterschaften in Berlin
Die Deutschen Meisterschaften in Berlin sind der erste Wettkampf nach Semechins OPBild: Jürgen Engler/nordphoto GmbH/picture alliance

Nur fünf Monate nachdem der Hirntumor entfernt wurde, geht Semechin bei den Deutschen Meisterschaften in Berlin an den Start. Gerade erst hat sie einen weiteren Chemo-Zyklus hinter sich gebracht. "Ich hatte ein wenig Angst", berichtet sie in einem Interview mit dem ZDF. "Mir ging es wirklich dreckig. Ich lag im Bett und mir war kotzübel. Ich hatte nichts gegessen. Aber ich dachte, das ist der einzige Wettkampf vor der WM, wo du mal wieder schwimmen kannst."

Semechin schafft es in den Endlauf und landet im Finale auf dem letzten Platz, der sich aber anfühlt wie ein Sieg. "Das Ziel war, dass mich nicht der Bademeister aus dem Wasser herausfischen muss", sagt sie und freut sich: "Ich war total erleichtert, dass ich überhaupt noch schwimmen kann."

Große Ziele für die Zukunft

Im Mai fliegt Semechin ins Trainingslager in die Türkei, um sich auf die WM in Portugal im Juni vorzubereiten. Parallel zu den Trainingsphasen laufen die Chemotherapien, doch die 28-Jährige nimmt die Herausforderung in beeindruckender Art und Weise an. Schon im Alter von sieben Jahren musste sie schon einmal akzeptieren, dass sich ihr Leben ändern würde. Damals wurde bei ihr Morbus Stargardt festgestellt, die Erkrankung, durch die ihre Sehkraft mehr und mehr schwand. "Dass jetzt diese Diagnose dazu gekommen ist, würde vielen anderen Menschen vielleicht den Boden unter den Füßen wegreißen, doch ich habe es als Zeichen gesehen, dass man in Momenten leben muss", sagt sie. "Ich genieße das Leben jetzt vielleicht sogar noch mehr als vor der Diagnose."

Semechin: "Vielleicht gibt es kein später"

Semechin wird mit dem Krebs leben müssen, denn besiegt hat sie die Krankheit noch nicht. Wie lange sie noch leben wird, weiß sie nicht - das spiele aber momentan auch keine Rolle, sagt sie. "Ich lebe im Hier und Jetzt und schiebe nichts mehr weg. Natürlich spielt der Leistungssport immer noch eine große Rolle in meinem Leben, aber wenn ich jetzt zum Beispiel einen Tauchschein machen will, dann mach ich das und nehme mir die Zeit dafür", so Semechin. "Ich plane es jetzt, denn vielleicht gibt es gar kein Später."

Ihre sportlichen Ziele aber bleiben. Die Weltmeisterschaft in Portugal soll der erste große Wettkampf werden und dann möchte die Schwimmerin auch bei den Paralympics in Paris 2024 an den Start gehen und ihren Erfolg von Tokio wiederholen. Alles jedoch abhängig von dem weiteren Verlauf der Krebsbehandlungen. "Wenn ich die Krankheit hoffentlich irgendwann überwunden habe, möchte ich gerne ein Kind haben", sagt sie und ergänzt: "Ich möchte jemanden da lassen, falls ich doch früher sterbe. Ich möchte, dass meine Familie dann nicht ganz alleine ist."

Anmerkung der Redaktion: Elena Semechin hat bei der WM auf Madeira ihren dritten Weltmeistertitel nur knapp verpasst. Über 100 Meter Brust wurde sie mit 0,02 Sekunden Rückstand Zweite und gewann Silber.