Europa ringt um Reformen
17. Oktober 2012Die Panik ist erst einmal aus Brüssel verschwunden. Niemand erwartet im Moment den großen Knall, mit dem die Währungsunion platzt. Bundeskanzlerin Angela Merkel sieht sogar Griechenland auf Dauer in der Währungsunion, obwohl der jüngste Troika-Bericht noch immer nicht vorliegt und alle wissen, dass Griechenland den Spar- und Reformauflagen hoffnungslos hinterherhinkt. Auch die angeschlagenen spanischen Banken bereiten den Staats- und Regierungschefs keine schlaflosen Nächte mehr: Immerhin gibt es jetzt den dauerhaften Rettungsfonds ESM. Ein spanischer Hilfsantrag steht aber noch aus. Der wichtigste Grund für die relative Ruhe dürfte jedoch sein, dass die Europäische Zentralbank (EZB) praktisch das Ruder der Rettungspolitik übernommen hat. Seit EZB-Präsident Mario Draghi im Sommer angekündigt hat, dass die Bank zur Not unbegrenzt Anleihen überschuldeter Staaten kaufen wird, hat er der Euro-Zone ein wenig Luft verschafft.
Van Rompuy sieht deutliche Fortschritte
Diese Atempause hat die EU genutzt, meint zumindest der Gipfel-Gastgeber, EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy: "Die Ergebnisse zeigen sich allmählich. Schauen sie sich die wachsende Wettbewerbsfähigkeit und die zunehmenden Ausfuhren Spaniens, Portugals und Irlands an." Die öffentlichen Defizite in ganz Europa würden langsam abgebaut, die Ungleichgewichte nähmen ab. Auf diesem Weg gelte es fortzufahren.
Auch EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso meint: Es mag wehtun, aber am Konsolidierungskurs führt kein Weg vorbei: "Es gibt nichts Unsozialeres als hohe staatliche Schulden. Jeder Euro, der für Schuldzinsen ausgegeben wird, fehlt bei Gesundheit, bei Bildung, bei der Hilfe für die Bedürftigsten."
Nord gegen Süd
Im gleichen Atemzug hat Barroso aber von den "alten Dämonen der Spaltung" gesprochen, die in Europa wiederkehren könnten: "Wir hatten die Ost-West-Spaltung. Heute besteht die Gefahr, dass sich eine Nord-Süd-Spaltung verfestigt." Stabile Nordländer, so seine Sorge, sehen herab auf die vermeintlich faulen Südländer, die sich wiederum gegängelt fühlen.
Angesichts anhaltender Proteste und hoher Arbeitslosigkeit in Griechenland, Spanien und anderswo klagte Italiens Regierungschef Mario Monti vergangene Woche in Brüssel, die Leute müssten "den Lohn der Opfer sehen, die ihnen abverlangt werden", sonst würden sie irgendwann nicht nur die Opfer ablehnen, sondern auch die europäische Idee und vielleicht sogar die Demokratie.
Das Papier der vier Präsidenten
Nach Jahren der Dauerkrise hat sich in Europa eine gewisse Erschöpfung breitgemacht. Doch eine Gruppe europäischer Spitzenfunktionäre hat sich im Auftrag des vorigen Gipfels im Juni schon Gedanken gemacht, wie es weitergehen soll. Vier Präsidenten - Ratspräsident Van Rompuy, Kommissionspräsident Barroso, EZB-Präsident Draghi und Eurogruppenchef Juncker - wollen bei diesem Gipfel einen Zwischenbericht vorlegen. Die Abstimmung ist aber erst für den Dezember-Gipfel vorgesehen.
Vieles daran ist vage. Klar ist aber, die Vorstellungen laufen auf eine weitere Integration innerhalb der Euro-Zone hinaus, vor allem in Haushalts- und Wirtschaftsfragen. Im Gespräch ist auch ein Budget nur für die Euro-Staaten. Damit würde sich auch die ewige Diskussion über Euro-Anleihen erübrigen, die Berlin ablehnt. Das glaubt zum Beispiel Herbert Reul, Chef der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament: "Ich halte das für eine kluge Idee, sich im Euro-Bereich mit einem eigenen Budget ein Instrument zu schaffen, mit dem man den Staaten helfen kann, die in Schwierigkeiten sind." Doch ist nicht gerade dafür der soeben aus der Taufe gehobene ESM da, den Van Rompuy "das Juwel in der Krone" genannt hat? Der ESM reiche dafür nicht aus, gibt sich Reul pessimistisch.
Weitere Spaltung scheint unvermeidlich
Kurz vor dem Gipfel hat Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble mit eigenen Ideen für Aufsehen und Verärgerung in EU-Kreisen gesorgt. Er will die Position des Währungskommissars so stärken, dass dieser - notfalls an der gesamten Kommission vorbei - unsolide nationale Haushalte ablehnen kann. Doch viele der Reformvorschläge, ob aus Berlin oder Brüssel, stoßen schnell an die Grenze europäischer Verträge. Und neue Vertragsänderungen sind im Moment kaum realistisch.
Die Briten machen als einzige nicht bei der Fiskalunion mit und haben ganz allgemein den Rückzug aus dem europäischen Projekt angetreten. Wenn jetzt nur die Eurozone weitere Integration will, vergrößert das die Spaltung der EU. Doch "die Hütte brennt", mahnt Herbert Reul, man könne deshalb nicht warten, bis alle allem zustimmen könnten, sondern man müsse schnelle und vielleicht unkonventionelle Lösungen suchen.
Mindestens in einem konkreten Punkt hoffen die Gipfelteilnehmer weiterzukommen, nämlich bei der Bankenunion. Deren Kernstück ist eine einheitliche europäische Bankenaufsicht. Nur wenn die steht, kann der ESM auch Banken direkt unterstützen, worauf vor allem Spanien hofft. Aber schon gibt es wieder Streit, ob die Bankenaufsicht Anfang 2013 oder später eingeführt werden kann.
Mitten in den aufgeregten Diskussionen gibt sich der stille Belgier Van Rompuy wieder mal unbeirrt und philosophisch: "Vor unseren Augen verändert sich Europa. Unsere Union sieht heute schon anders aus als vor drei Jahren. Dieser Wandel kann nur weitergehen." Vielleicht wird sich sein Gleichmut beruhigend auf die Staats- und Regierungschefs auswirken.