Faruk Şen: "Die Türken identifizieren sich mit Klinsmanns Team"
13. Juni 2006DW-WORLD.DE: Wie haben Sie die Begeisterung in Deutschland lebender Türken für die Deutsche Nationalmannschaft nach dem Spiel gegen Costa Rica erlebt?
Faruk Şen: Wir haben vorige Woche, als Zentrum für Türkeistudien, mit allen türkischen Migrantenvereinen eine Sitzung gehabt und bei dieser Sitzung kam heraus, dass die Fußballbegeisterung bei den Türken sehr groß ist und dass sie sich voll mit der Nationalmannschaft von Klinsmann identifizieren. Das liegt daran, dass die Türkei dieses Mal nicht selbst mitspielen kann und dass sich 2002 sehr viele deutsche Zuschauer auch für die Türkei stark gemacht haben, als die Türkei bis ins Halbfinale gekommen ist. Im Gegenzug solidarisiert man sich jetzt voll mit der deutschen Mannschaft. Zudem haben wir appelliert, nicht nur an türkische Mitbürger, sondern an alle hier lebenden Ausländer, das deutsche Team bei dieser WM zu unterstützen.
Glauben Sie, dass dieses Phänomen zeitlich begrenzt ist oder dass es auch Einfluss auf die Integration allgemein haben wird?
Ich bin ganz sicher, dass das einen großen Einfluss haben wird, ganz besonders dann, wenn Deutschland - wie sehr viele Türken erwarten - auch Weltmeister wird. Dann werden die Türken sich voll identifizieren und fühlen, dass sie mit ihrer Begeisterung mitgeholfen haben.
Es ist ja in Deutschland in letzter Zeit viel über Integration als Problem diskutiert worden. Worin liegt Ihrer Meinung nach das Besondere des Fußballs, dass er in so kurzer Zeit so viel verändern kann?
Schauen Sie sich beispielsweise Borussia Dortmund, einen der wichtigsten Vereine in Deutschland an. Dieser Verein hat einen türkischen Fanclub. Wenn Sie zu den Fußballspielen von Schalke 04 oder in Berlin gehen, sehen Sie hunderte von jungen Türken, die sich mit ihrer Mannschaft identifizieren. Bei Rot-Weiß Essen stelle ich zum Beispiel fest, dass - obwohl sie in der dritten Liga spielen - zu jedem Spiel 400 oder 500 junge Türken gehen. Der Fußball spielt für die Türken eine große Rolle. Zudem kennen die Türken aber auch den deutschen Fußball sehr gut. Die türkische Nationalmannschaft ist zum Beispiel durch Jupp Derwall groß geworden, alle Fenerbahçe-Fans in Istanbul sind große Anhänger von Christoph Daum, deswegen ist die Identifizierung mit der deutschen Mannschaft, mit den Spielern und dem Trainer, sehr groß.
Worin unterscheidet sich denn der türkische Fußball-Fan vom deutschen?
Die türkischen Fans sind etwas vollblütiger, sie sind impulsiver. Manchmal sind sie zu impulsiv, grundsätzlich glaube ich, gibt es bei Fans aber keine großen Unterschiede. Aber ich freue mich sehr, dass jetzt am Freitag nach dem Spiel so viel Türken mitgefeiert haben. Das konnte man in allen Städten beobachten. Ich bin sicher, dass sie sich bei dem Spiel gegen Polen am Mittwoch mit voller Begeisterung für Deutschland stark machen werden.
Glauben Sie, dass diese Begeisterung nur über den Fußball und speziell über die WM funktionieren kann?
Ich bin ganz sicher, dass, wenn die Bundesregierung in dieser Hinsicht konkrete und vernünftige Schritte tun wird, diese Begeisterung für die Bundesrepublik Deutschland, für das neue Heimatland, bei den türkischen Jugendlichen größer sein wird. Die zweite und dritte Generation sind hier geboren und haben wenig Bezug zur Türkei. Die Bundesregierung und die Landesregierungen können mit geschickten Schritten die Türken voll für ihr neues Heimatland gewinnen.
Faruk Şen ist Direktor der Stiftung "Zentrum für Türkeistudien" an der Universität Duisburg-Essen. Der studierte Betriebswirt leitet das Institut seit 1985. Zudem lehrt er an den Universitäten Duisburg und Bonn, 2005 wurde ihm der deutsch-türkische Freundschaftspreis verliehen. Er hat diverse Publikationen zur Lage türkischer Immigranten in Deutschland und der Rolle der Türkei in Europa veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm 2005 das Buch "Die deutschen Türken" in Zusammenarbeit mit Andreas Goldberg und Dirk Halm. In einem Interview mit DW-WORLD.DE erzählt er, warum er daran glaubt, dass die Begeisterung türkischer Fans für die deutsche Mannschaft auch nach der WM anhalten wird und was das für ihre Integration bedeutet.