Lindners "Beta Republik Deutschland"
23. April 2016Bevor der Vorsitzende in seiner 80 Minuten dauernden Rede in die Zukunft blickt, wird es auf dem Bundesparteitag der Freien Demokraten in Berlin besinnlich. In der weitläufigen Halle ist es plötzlich dunkel. Im selben Moment erscheinen Hans-Dietrich Genscher und Guido Westerwelle in Form großer Schwarz-Weiß-Fotos auf überdimensionalen Bildschirmen. In die Stille hinein erklingt Christian Lindners Stimme. Der FDP-Vorsitzende steht vorn am Rednerpult, von einem dezenten Lichtkegel umgeben. Lindner spricht leise. Er würdigt die Verdienste der ehemaligen Außenminister und Parteivorsitzenden. Beide sind innerhalb von zwei Wochen im März gestorben. Nach Trauerfeiern und Staatsakten in Köln, Berlin und Bonn verabschiedet sich nun die liberale Familie von zwei ihrer prägendsten Figuren.
Nach diesem emotionalen Auftakt ist es an Partei-Vize Wolfgang Kubicki, den Übergang zum Tagesgeschäft zu schaffen. Er entscheidet sich für einen saloppen Spruch: "The show must go on - wie Guido Westerwelle gesagt hat." Aus dem Mund Lindners hätte das deplatziert gewirkt. Von Kubicki aber sind die Delegierten solche Töne gewöhnt. Wahrscheinlich sind sie ihm dankbar, sich nun unbeschwert auf Lindners programmatischen Auftritt einlassen zu können. Der 37-Jährige bleibt aber noch kurz in der Vergangenheit und erinnert an das Scheitern der FDP bei der Bundestagswahl 2013. Noch im selben Jahr wurde er auf einem Sonderparteitag zum Nachfolger Philipp Röslers gewählt.
Lindner: "Trendwende für die Liberalen"
Damals habe die FDP bei der Wahl Prozente verloren, sagt Lindner zweieinhalb Jahre später, "aber nie ihre Würde". Mit diesem Satz löst er den ersten Beifall aus. Selbstkritisch räumt der Parteichef ein, die Liberalen hätten sich selbst besiegt. Der neue Kurs sei zuerst bei den Wahlen 2015 in Hamburg und Bremen bestätigt worden. Man habe gewusst, dass es noch keine Trendwende sein würde. Anfang dieses Jahres hätten wenige die FDP auf der Rechnung gehabt. Lindner verweist auf die Flüchtlingsfrage und den "Hype" um die Alternative für Deutschland (AfD).
Aus Desinteresse könne aber wieder Neugier werden, fährt er fort. Die guten Ergebnisse bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt scheinen diese These zu bestätigen. Diese Erfolge würden motivieren und seien Anlass, "um so ernster, an unserer politischen Substanz zu arbeiten". Jetzt habe man die Trendwende für die FDP gemeinsam erreicht. Jetzt gehe es voller Motivation in die nächsten Wahlkämpfe. Schon im September stehen die nächsten Parlamentswahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern an.
"Überzeugungspartei" statt "Funktionspartei"
Mit Blick auf mögliche Regierungsbeteiligungen rechtfertigt Lindner die Entscheidung des Landesverbandes Baden-Württemberg, nicht den "Sirenenklängen" für eine Ampel-Koalition aus Grünen, SPD und FDP erlegen zu sein. Dass sich die Liberalen in Rheinland-Pfalz hingegen auf ein solches Bündnis einlassen wollen, kommentiert der Bundesvorsitzende mit dem Wort "souverän". Man regiere nicht um jeden Preis. "Aber die Freien Demokraten scheuen eben auch nicht die Übernahme von Verantwortung."
Wer die FDP einseitig auf die Union festlegen wolle, solle doch mal darlegen, wo die Unterschiede zwischen CDU, SPD und Grünen eigentlich noch seien. "Das ist im Prinzip doch eine Soße." Den Unterschied müsse die FDP machen. Man lasse sich nicht mehr zur "Funktionspartei" machen, weil man eine "Überzeugungspartei" sei.
Und damit kommt Lindner auf das zu sprechen, was hinter ihm in großen Lettern an der Wand steht: "Beta Republik Deutschland". "Beta" sei in der Digitalwirtschaft der Begriff für eine Testversion. Der FDP-Chef versteht darunter Eigenschaften wie Neugier, Risikobereitschaft und Offenheit.
"In Israel gibt es WLAN in der Wüste"
"Beta" sei ein Labor, "in dem nicht der Zustand des Landes verwaltet, sondern an der Zukunft gearbeitet wird". Daran mangelt es Lindners Sicht in Deutschland gewaltig. In den Schulen würden die Bücher aussehen "wie vor 20 Jahren". Die IT-Ausstattung befinde sich auf dem Stand von 2006. Bildung brauche eine Digitalisierungsoffensive.
Probleme fingen beim Zugang zum Internet an. Lindner illustriert das am Beispiel kabelloser Verbindungen. Länder wie Frankreich, China oder Estland sieht er gegenüber Deutschland klar im Vorteil: "In Israel gibt es WLAN selbst in der Wüste", spottet der FDP-Chef. Und er hat noch einen Seitenhieb auf die Grünen parat: Bei denen gebe es Forderungen nach WLAN-freien Zonen. Lindner kommentiert das ironisch als "Grundrecht auf Funklöcher".
Kritik an Bundeskanzlerin Merkel
Vergleichsweise kurz streift Lindner andere politische Themen. Das von der Großen Koalition auf den Weg gebrachte neue Asylrecht sei "kein Ersatz für ein modernes Einwanderungsgesetz". Sprachkenntnisse, berufliche Qualifikation und Straffreiheit nennt er als entscheidende Kriterien dafür, wer nach Deutschland kommen dürfe. Die AfD kritisiert Lindner wegen ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Islam. In Deutschland gelte für alle Religionen das Grundgesetz, betont der FDP-Chef.
Deutliche Worte an die Adresse Angela Merkels hebt sich Lindner für den Schluss auf. Der Bundeskanzlerin gibt er ein paar Ratschläge für ihre Türkei-Reise, die sich zeitlich mit dem FDP-Parteitag in Berlin überschneidet. Er erwarte, dass es in der Flüchtlingsfrage zu "europäischen Lösungen" komme. Merkels Agieren in der Affäre um den von Recep Tayyip Erdogan beklagten Satiriker Jan Böhmermann hat aus Lindners Sicht dazu geführt, dass Deutschland jetzt den höchsten Preis zahle: "Nämlich dass die Liberalität unserer Gesellschaften infrage gestellt wird."