"Stereo Total"-Sängerin Cactus gestorben
18. Februar 2021Noch am 26. Januar konnte man Françoise Cactus in ihrem Element erleben. Beim Berliner Radiosender "Radio Eins" beschäftigte sie sich immer am letzten Dienstag des Monats für eine Stunde mit - wie könnte es anders sein? - Musik. Immer nur von Schallplatten, abseits vom Mainstream, und oft experimentell: Die Musik, die Cactus für ihre Hörer spielte und kommentierte, ähnelte ihrer eigenen Musik, die der französischstämmigen Sängerin Fans auf der ganzen Welt brachte. Mit ihrem unheimlich breiten Wissen moderierte Cactus also auch vor drei Wochen die Sendung, die ihre letzte werden sollte: Am 17. Februar 2021 starb Françoise Cactus an den Folgen einer Brustkrebserkrankung.
Cactus wurde 1964 als Françoise van Hove in dem französischen Dorf Villeneuve-l’Archevêque in Burgund geboren, über einige Umwege landete sie 1986 in West-Berlin. Sie hatte zwar studiert und ihr Referendariat abgeschlossen, um Französisch-Lehrerin zu werden - damit endete ihre bürgerliche Karriere dann aber auch. Cactus, wie sie sich fortan nannte, widmete sich stattdessen ganz der Musik und machte sich mit der Garage-Punkrock-Band "Lolitas" schnell einen Namen in der West-Berliner Musikszene.
Punkrock und Chansons
Wenige Jahre und viele Auftritte später traf Cactus beim Brötchenholen in Berlin-Kreuzberg dann ihren zukünftigen Band- und Lebenspartner Brezel Göring (eigentlich: Friedrich Ziegler). Mit ihm teilte sie sich nicht nur dieselbe Bäckerei, sondern auch die Liebe für experimentellere Musik. Gemeinsam gründeten sie 1993 die Band "Stereo Total", ihr neuestes Album erschien 2019.
Den Musikstil der Band auf ein Schlagwort zu bringen, ist nicht ganz einfach: Zu gemischt ist der Stil, mit dem die beiden poppige Synthesizer-Klänge, Chansons und New Wave verbinden.
Konstant ist vor allem die Punkrock-Attitüde: Keines der Instrumente dürfe mehr als 50 DM kosten, lautete beispielsweise eine der Regeln, die sie sich anfangs selbst auflegten. Außerdem sollten die Studioaufnahmen den technischen Standard bewusst unterschreiten und Virtuosität um jeden Preis vermieden werden.
Die unzähligen Lieder, die seitdem entstanden sind, spiegeln das: Sie scheinen spontan entstanden zu sein, schiefe Töne und bewusst verfehlter Rhythmus gehören ebenso dazu wie ungewöhnliche Klänge. Legendär ist beispielsweise das Schreibmaschinen-Solo aus dem Song "Dactylo Rock" geworden.
Konzerte auf der ganzen Welt
Und dann war da noch Cactus' französischer Akzent. Er wurde zum absoluten Markenzeichen der Band und war bei den deutschsprachigen Texten ebenso unverwechselbar herauszuhören wie bei den Liedern, die Cactus nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Englisch, Polnisch oder Japanisch einsang.
Die unnachahmliche Mischung aus babylonischem Sprachgewirr, Punk und Chanson hatte schnell Erfolg: "Stereo Total" wurde über Deutschland hinaus bekannt und spielte Touren in den USA und Japan, Russland, Kasachstan oder China - dabei bleiben beide Musiker aber im Herzen Punker.
Nie stieß die Band in die allererste Reihe der Musik-Stars hervor. So ist es dann vielleicht auch bezeichnend, dass Cactus einer breiteren Masse in Deutschland nicht durch ihre Musik, sondern mit einem Kunstprojekt bekannt wurde.
Skandal um Strickpuppe
Denn die vielseitige Cactus sang nicht nur, sie zeichnete auch, schrieb Bücher und produzierte Hörspiele. Und sie strickte: 2004 steuerte sie der Gruppenausstellung "When love turns to poison" (Wenn Liebe Gift wird) in Berlin eine 1,75 Meter große und oberkörperfreie Puppe bei. Weil die Ausstellung auch Fotos und Video-Installationen von Kindern in obszönen Posen zeigte, sah die Berliner Boulevardpresse in den entblößten Wollbrüsten der Puppe einen Skandal.
Cactus nahm die Causa mit Humor, schließlich ironisierten viele ihrer in einfacher Formsprache gehaltenen Lieder eine rigide Sexualität oder bürgerliche Scheinheiligkeit. Sie nannte die Puppe "Wollita", schrieb ein Buch über ihren Aufstieg von der Strickpuppe zum Superstar, und teilte der Puppe einen Ehrenplatz in ihrer Wohnung zu.
Es ist diese Nonchalance, die Weggefährten neben ihrem Humor an ihr hervorheben. Und ihre Einstellung: "Sie war eine Naturkraft, eine Ikone. Und zugleich eine völlig freie Künstlerin", sagte ihr Tourmanager Alexandre Lemieux im Gespräch mit der DW. "Das hat sie zu einer ultimativen Berliner Künstlerin gemacht."
Berlin ist in den Jahrzehnten zu Cactus' Wahlheimat geworden, zum Anker zwischen den beständigen Tourneen um die Welt. Am Mittwoch (17.02.2021) starb sie in ihrer Wohnung am Kreuzberger Oranienplatz. Françoise Cactus wurde nur 57 Jahre alt.