Gehen der Ukraine die sowjetischen Waffen aus?
10. November 2022Die Schweiz sagte wieder Nein. Die Regierung in Bern erteilte Anfang November dem Berliner Antrag eine Absage, in der Schweiz hergestellte 35-mm-Munition für deutsche Gepard-Panzer an die Ukraine weiterzugeben. Eine ähnliche Antwort mit Verweis auf Neutralität hatte es bereits im Juni gegeben. Diesmal wollte Deutschland nach Medienberichten 12.400 Schuss Munition für den Flugabwehrpanzer übergeben. Von den ausgemusterten Bundeswehr-Panzern hat Deutschland bislang 30 Exemplare in die Ukraine geliefert, wo sie auch gegen Drohnen eingesetzt werden. Es war bereits vor der Lieferung bekannt, dass es dafür nicht genug Munition gibt.
Die Nachricht zeigt, wie schwierig es für die Ukraine ist, von sowjetischen auf NATO-Waffen umzurüsten. Kiew erhielt erste westliche Waffenlieferungen bereits in den Jahren vor dem russischen Überfall im Februar, in den Wochen davor wurden sie beschleunigt. Doch von einer massiven Umrüstung sprach die Regierung in Kiew erst im Frühling. "Wir sind in einer grundsätzlich neuen Phase, von der keiner zu träumen wagte", schrieb der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba im April auf Facebook. "Es geht um eine Umstellung der ukrainischen Armee auf NATO-Waffen, NATO-Standard. Das passiert bereits."
Immer mehr westliche Waffen, Logistik als Schwachstelle
Wo genau die Umrüstung im neunten Monat des Krieges steht, ist unbekannt. Fakt ist, dass die Ukraine immer mehr Waffen aus dem Westen erhält. Doch insgesamt sind die Lieferungen beschränkt. Bei moderner schwerer Technik liegt die Zahl im einstelligen Bereich - so etwa bei den in den vergangenen Wochen gelieferten Flugabwehrsystemen IRIS-T aus Deutschland und NASAMS aus den USA. Haubitzen aus NATO-Ländern und der US-Mehrfachraketenwerfer HIMARS wurden zu Dutzenden geliefert. Ältere Systeme, wie den gepanzerten US-Mannschaftstransporter M113, erhielt Kiew zu Hunderten.
"Der kritische Punkt bei westlichen Waffen ist ein System der Wartung, Reparatur und Versorgung", sagt der ukrainische Militärexperte Serhij Hrabskyj. "Es ist viel umfangreicher als die Waffennutzung an sich." Das scheint einer der Gründe sein, warum die Umrüstung langsamer passiert, als Kiew das gerne hätte. Für die Instandhaltung westlicher Technik werden Strukturen nicht in der Ukraine selbst, sondern in benachbarten NATO-Ländern aufgebaut.
Ein weiteres "Problem mit westlichem Kriegsgerät ist die Tatsache, dass es mehrere Typen gleicher Waffen gibt - amerikanische, britische, französische, deutsche, schwedische", sagt Hrabskyj. Der Standard sei zwar gleich, doch bei der Wartung gebe es Unterschiede. Das bestätigt auch Markus Reisner, Oberst beim österreichischen Generalstabsdienst. "Die Ukrainer haben es bisher geschafft, mit den gelieferten Systemen in einer sehr sinnvollen Art und Weise umzugehen. Die Herausforderung ist die Logistik: Man hat eine ganze Schmetterlingssammlung unterschiedlicher Waffensysteme", sagt Reisner. "Es gibt die Schwierigkeit, die richtige Munition zur richtigen Waffe zu bringen, die Ukraine ist ein riesiges Land."
Alle Waffen aus dem Westen haben eines gemeinsam - es sind Kurzstreckensysteme, deren Einsatzbereich bei einigen Dutzend Kilometern liegt. Kiew möchte Langstreckenwaffen erhalten, außerdem westliche Flugzeuge und Kampfpanzer. Bisher bleibt dieser Wunsch unerfüllt.
Sowjetische Panzer aus Polen und Tschechien
Der Großteil der ukrainischen Waffen besteht aus sowjetischer Kriegstechnik, geliefert vor allem aus Ost- und Mitteleuropa- auch weil es dafür die Logistik gebe, so Militärexperten gegenüber der DW. Bei der Luftwaffe verfüge die Ukraine ausschließlich über sowjetische Ausrüstung, bei der Artillerie gebe es eine Mischung, so Serhij Hrabskyj. Ähnlich sei die Lage mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen. Es gebe zwar Ausnahmen, doch ein Großteil seien "faktisch sowjetische Geräte".
Das jüngste Beispiel: Die USA kündigten Anfang November an, zusammen mit den Niederlanden 90 modernisierte Panzer des Typs T-72 aus Tschechien in die Ukraine zu liefern. Früher bekam die Ukraine Hunderte ähnliche Panzer aus anderen Ländern, vor allem aus Polen. Auch Munition wird geliefert. Doch der Krieg ist intensiv, der Verschleiß groß, was auch Berichte von der Front bestätigen. "Es gibt wenig Technik, kaum Munition für sowjetische Kaliber", schrieb Anfang August der ukrainische Filmemacher und Soldat Oleh Senzow bei Facebook über seinen Einsatz bei Bachmut in der Ostukraine. "NATO-Systeme sind besser, doch es gibt nicht genug davon".
Flugabwehrsysteme aus NATO-Staaten
Könnte für die Ukraine bald ein kritischer Moment kommen, wenn sowjetische Bestände immer dünner werden und westliche Lieferungen sie noch nicht ersetzen können? In sozialen Netzwerken wird darüber diskutiert, offizielle Angaben gibt es nicht, denn diese Informationen sind geheim. "Einen Engpass hat man sehr gut beobachten können, das waren schwere Flugabwehrraketen für die Systeme Buk-M1 und S-300", sagt Gustav Gressel, Militärexperte beim Berliner European Council on Foreign Relations (ECFR). "Wenn die Russen mit Marschflugkörpern oder Ähnlichem angegriffen haben, hat die Ukraine nur zwei, drei von acht oder zehn Raketen abgeschossen, einfach weil sie kaum Munition haben." Seit der Lieferung der Flugabwehrsysteme IRIS-T und NASAMS könne die Ukraine deutlich mehr abschießen. Vor kurzem entschieden sich einige NATO-Länder, auch ältere Flugabwehrsysteme wie das US-Amerikanische HAWK in die Ukraine zu liefern.
Eine weitere sensible Frage ist, wie lange die sowjetische Munition reicht. Die ukrainischen Bestände wurden bereits vor dem Krieg durch eine Serie von Explosionen in Munitionsdepots reduziert, die als Sabotage eingestuft wurden. In Osteuropa gebe es "nicht mehr wirklich viel" an sowjetischen Waffen, sagt Gressel. "Es kommt darauf an, worüber man redet, aber wir sind relativ durch." Allerdings können die Waffenfabriken in einigen osteuropäischen Ländern beispielsweise Munition für sowjetische Kanonen herstellen, auch wenn sie die Kanonen selbst nicht produzieren können. Doch vielfach ist das nicht der Fall: Für sowjetische Flugabwehrsysteme "Strela" und "Osa", die Kiew auch aus Osteuropa bekommen habe, gebe es immer weniger Munition, so Gressel.
Hunderte Beutepanzer aus Russland
Den Wunsch Kiews, komplett auf westliche Systeme umzusteigen, nennt Gressel "eine gute und berechtigte Forderung". Dieser Prozess könnte schneller vorangehen, wenn manche Länder, zu denen der Experte auch Deutschland zählt, politische Entscheidungen schneller treffen würden.
Serhij Hrabsky findet es momentan "unkritisch", sollte es in der Ukraine Engpässe mit sowjetischen Waffenbeständen geben. "Wer ist der größte Waffenlieferant an die Ukraine? Russland", sagt der Experte über erbeutete Kriegstechnik. Nach Angaben der ukrainischen Ausgabe des Forbes-Magazins gebe es in der Ukraine mehr erbeutete Technik als von führenden westlichen Ländern geliefert. Bis Ende September habe die Ukraine rund 400 russische Kampfpanzer und rund 700 Schützenpanzer erbeutet. Die meisten davon waren jedoch alte Modelle.