Gelüftet: Die Geheimnisse der Künstler
26. Dezember 2021Die Experten der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden staunten nicht schlecht, als sie dem Vermeer-Gemälde "Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster" mit technischem Gerät zu Leibe rückten: Unter einer Malschicht verbarg sich ein feister Liebesgott. Der Maler hatte ihn an die Wand hinter sein unschuldig dreinblickendes Mädchen gemalt. In zweijähriger Arbeit freigelegt, konnte das Ursprungsbild im September einer staunenden Öffentlichkeit präsentiert werden.
Jan Vermeer (1632 - 1675) zählt neben Rembrandt und Rubens zu den bekanntesten Künstlern des Barock. Sein "Brieflesendes Mädchen" galt und gilt als Spitzenwerk des Goldenen Zeitalters zwischen 1600 und 1700, in dem die Niederlande eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Blüte erlebten. Doch mit nur 37 Bildern ist Vermeers Ouevre schmal. Entsprechend groß war die Aufregung, die der Dresdner Sensationsfund in der Kunstwelt auslöste: Die Gemäldegalerie Alte Meister feiert ihn derzeit mit der Schau "Johannes Vermeer - vom Innehalten."
"Nicht immer ist die Freilegung übermalter Bildteile so sinnig wie im Falle Vermeers", sagt Maria Galen, Expertin für moderne Kunst und Galeristin im westfälischen Greven. "Vermeer hat die Figur des Cupido vier Mal verwendet - als 'Bild im Bild'", sagt die Oberkonservatorin des Dresdner Museums, Uta Neidhardt. Recherchen und modernste Laboruntersuchungen hätten zweifelsfrei bestätigt, dass der in Braun- und Ockertönen gemalte Liebesgott erst nach dem Tod des Künstlers von fremder Hand getilgt wurde - und mit ihm Vermeers amouröse Bildaussage. Nicht immer liegt der Fall so klar.
Suche nach dem perfekten Bild
Was die Sache kompliziert macht: Es gibt die verschiedensten Arten von Übermalungen. Immer schon legten Künstler nachträglich Hand an ihre Werke, wie das Kölner Wallraf-Richartz-Museums in diesen Tagen vorführt: In seiner sehenswerten Ausstellung "Entdeckt - Maltechniken von Martini bis Monet" widmet sich ein großes Kapitel solchen künstlerischen Eingriffen: "Malerinnen und Maler haben immer nach dem perfekten Bild gestrebt", sagt Iris Schaefer, die Chefrestauratorin des auf Alte Meister spezialisierten Museums, "so gibt es nur wenige Gemälde, die wirklich komplett Pentimenti-frei sind".
"Pentimenti" - das können Übermalungen sein, Korrekturen in der Linienführung, Veränderungen in Motiv und Farbe. Bis hin zur Zerstörung ganzer Kunstwerke reicht die Palette künstlerischer Eingriffe. Was die Künstler dazu trieb, ihr Werk zu variieren? "Dafür gab es viele Gründe", so Iris Schaefer. Manchmal nagten Zweifel am Selbstwertgefühl der Kunstschaffenden, oft auch veritable Lebenskrisen. Dann wieder hatte Kritik von Betrachtenden, Kunsthändlern oder Kunstkäufern Folgen für das Kunstwerk. Ob aber Pentimenti oder spätere Veränderung von fremder Hand, und sei es, um ein Gemälde neueren Moralvorstellungen anzupassen: "Nicht immer", sagt die Restauratorin Iris Schaefer, "lässt sich beides zweifelsfrei unterscheiden."
Um die Geheimnisse alter Gemälde zu lüften, fahren Restauratoren inzwischen ein wachsendes Arsenal an Untersuchungsmethoden auf. Schon das Betrachten mit bloßem Auge kann Pinselstriche sichtbar machen, die auf mögliche Übermalungen hindeuten. Stereomikroskope erlauben einen dreidimensionalen Blick mit bis zu 90-facher Vergrößerung. Röntgen-, Infrarot- oder auch UV-Strahlen dringen unterschiedlich tief in die Bildoberfläche ein und fördern so Malgründe oder Unterzeichnungslinien zutage.
Bass erstaunt waren die Kunsttechnologen im Kölner Wallraf-Richartz-Museum, als sie August Renoirs (1841 - 1919) impressionistisches Gemälde "Das Paar" einer Röntgenuntersuchung unterzogen. Das um 1868 auf Leinwand gemalte Ölbild zeigt heute einen Mann und eine Frau, die einander zugewandt im Park stehen. "Wir dachten, wir hätten den falschen Film aus der Entwicklerflüssigkeit zogen", erinnert sich Iris Schaefer. Zum Vorschein kamen zwei Frauen, die sich im Park gegenübersitzen, ein völlig anderes Bild. "Da denkt man schon mal: Ooops!", fügt Schaefer hinzu.
Die Chemie der Farben
Für noch größeres Erstaunen sorgt allenthalben die Makro-Röntgenfluoreszenzanalyse, kurz MA-XRF. Was so kryptisch klingt, ist eine ausgefeilte Untersuchungsmethode, die es erlaubt, unter die Oberfläche von Objekten zu schauen, ohne Zerstörungen anzurichten. Sie lässt die chemische Zusammensetzung von Farben erkennen und macht den Malprozess nachvollziehbar. Im Rahmen eines großen Forschungsprojekts hat das Frankfurter Städel Museum bereits 2016 Teile des Altenberger Altars mit Hilfe des "Elemente-Mappings" durchleuchtet.
Seit Frühjahr 2021 liegt mit Rembrandts "Die Blendung Simsons" eines der Hauptwerke des Museums unter dem Scanner. Schon seit Jahrzehnten werden Rembrandts Werke nicht nur kunsthistorisch, sondern auch gemäldetechnologisch erforscht - wie zuletzt in der aufsehenerregenden "Operation Nachtwache" im Amsterdamer Rijksmuseum. Experten durchleuchteten Rembrandts Meisterwerk vor der Restaurierung. Anschließend konnte das Bild - das die Besitzer zu Rembrandts Zeiten mit der Schere verkleinert hatten, damit es zwischen zwei Türen passte - rekonstruiert und die fehlenden Stücke wieder angefügt werden.
Mit Bewunderung blickt die Kölner Chefrestauratorin Iris Schaefer an die großen Weltmuseen in Amsterdam, Frankfurt, London oder Washington, wo man das Geld für so millionenschwere Apparate schon aufbringen konnte: "Unfassbar, was damit alles möglich ist", staunt selbst Schaefer. Gleichwohl, sagt sie, hätte nicht alles, was Technik und Restaurierungskunst hergeben, immer auch den Künstlern gefallen.
Umdenken bei den Restauratoren
Über die Jahrhunderte waren Künstler ihre eigenen Restauratoren, wurden dank ihres Handwerks auch mit der Pflege, Wartung und Ausbesserung von Kunstwerken beschäftigt. Noch im 19. Jahrhundert wurde gerne übermalt und neu vergoldet, wo ein Bild schadhaft aussah. Die Folge: Die Authentizität des Kunstwerks litt. "Ich kann mir nicht vorstellen", sagt Iris Schaefer, "dass das im Sinne der Künstler war."
Erst um 1900 begannen sich Maler auf die Restaurierung zu spezialisieren. Der Beruf des Restaurators war geboren. Um ihn zu ergreifen, muss man heute in Deutschland beispielsweise eine lange Universitätsausbildung absolvieren. Kunstgeschichte ist Pflicht, technisches Verständnis sowieso. "Unser Berufsbild ist an Kodizes geknüpft", sagt Iris Schaefer. "Es gibt strenge Regeln, was das Eingreifen in Kunst und Kulturgut angeht." Die Unversehrtheit des Kunstwerks hat oberste Priorität. "Hier hat ein Umdenken stattgefunden."
Ein Umdenken, das auch dem "Lesenden Mädchen am offenen Fenster" zugute kam. Lange stand Vermeers Bild für das karge Interieur einer keuschen Seele. Die leere, weiß gekalkte Wand, von der sich die zierliche Mädchensilhouette abhob, betonte die kontemplative Stille des Werks. Nach mehr als 200 Jahren erzählt das Bild nun eine ganz andere Geschichte: Hinter dem Mädchen erscheint lebensgroß der nackte Jüngling. Das Fenster ist weit geöffnet, der Vorhang vor Amor zur Seite gezogen, eine Früchteschale quillt über vor glänzenden Äpfeln und pelzig-zarten Pfirsichen. Sichtbar wird eine Spannung zwischen äußerlicher Ruhe und innerer Bewegtheit, vielleicht sogar Liebessehnsucht. Vermeers Geheimnis scheint gelüftet.