Grundgesetz: Der Mensch im Mittelpunkt
23. Mai 2019"Die Würde des Menschen ist unantastbar." Statt komplizierter Passagen über Staatsaufbau steht dieser klare und durch nichts relativierte Satz gleich am Anfang. Die Menschenwürde war im Nationalsozialismus nichts wert gewesen; Millionen Menschen waren gedemütigt, gequält und ermordet worden. Jetzt sollte diese Würde im Mittelpunkt stehen.
Die Weimarer Reichsverfassung, die Vorgängerin des Grundgesetzes, war für ihre Zeit modern. Auch sie enthielt schon Grundrechte - und sie hat das Frauenwahlrecht in Deutschland eingeführt. Doch sie hat die nationalsozialistische Diktatur nicht verhindert. Der Rechtswissenschaftler Prof. Ulrich Battis glaubt zwar: "Weimar ist nicht an seiner Verfassung gescheitert, sondern daran, dass es zu wenige Demokraten gab." Aber die Weimarer Verfassung habe große Schwächen gehabt, die man beim Grundgesetz unbedingt vermeiden wollte.
Schwacher Bundespräsident - wegen Weimar
Problematisch war zum Beispiel die sehr starke Stellung des Reichspräsidenten. Er konnte den Reichstag nach Belieben auflösen und sogar am Parlament vorbei mit Notverordnungen regieren. Das verhalf schließlich Adolf Hitler zur Macht. Der Bundespräsident heute hat deshalb nur noch eine hauptsächlich repräsentative Funktion. Die Macht des Bundestages und des dort gewählten Bundeskanzlers hat das Grundgesetz dagegen gestärkt.
Misstrauisch waren die Autoren des Grundgesetzes beim Thema direkte Demokratie. Auch das hatte mit den Erfahrungen der Geschichte zu tun. Der Reichspräsident wurde direkt gewählt. In politisch und wirtschaftlich unruhigen Zeiten konnte das gefährlich werden, vor allem in Verbindung mit der Machtfülle des Amtes. Das Grundgesetz setzt daher auf einen von Politikern gewählten Bundespräsidenten. Heutzutage mag dieses Misstrauen übertrieben scheinen. Doch Ulrich Battis hält eine Direktwahl des Bundespräsidenten nach wie vor für falsch. Denn dann könne der Präsident "immer leicht seine Direktwahl gegen das Parlament ausspielen" und sich damit gegen die gewählten Volksvertreter in Stellung bringen. Für Battis war auch das Brexit-Referendum in Großbritannien "nicht unbedingt Werbung für direkte Demokratie".
Anfangs nur "für eine Übergangszeit"
Aber nicht nur das Scheitern der Weimarer Republik und die Erfahrungen des Nationalsozialismus waren für das Grundgesetz prägend, sondern auch die besonderen Zeitumstände seiner Entstehungszeit: 1949 zementierte sich die Teilung Deutschlands. Das Grundgesetz galt nur für die entstehende Bundesrepublik, doch es hielt am Ziel der Einheit fest. Es sollte nur "für eine Übergangszeit" gelten, bis alle Deutschen an einer Verfassung mitwirken könnten. Deshalb hieß es auch Grundgesetz und nicht Verfassung.
Mit der Wiedervereinigung 1990 war das Ziel erreicht. Doch statt eine ganz neue Verfassung auszuarbeiten, entschieden die führenden politischen Kräfte, dass ein "Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zum Geltungsbereich des Grundgesetzes" stattfinden sollte. Es blieb also beim bestehenden Grundgesetz und auch bei dem Ausdruck. Das Provisorische wurde jedoch aufgegeben. Statt des Beitrittsartikels 23 gibt es seit 1992 den Europaartikel, der eine "Verwirklichung eines vereinten Europas" vorschreibt.
Heute ist fast immer von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes die Rede. Die vier Mütter wurden anfangs aber neben den 61 Männern kaum erwähnt. Dabei ist es den Frauen und vor allem der Juristin Elisabeth Selbert zu verdanken, dass der Passus "Männer und Frauen sind gleichberechtigt" ins Grundgesetz kam. "Das zeigt, was resolute Frauen bewirken können. Den Männern stand nicht der Sinn danach", sagt Ulrich Battis.
Allerdings klafften Anspruch und Wirklichkeit damals noch weit auseinander. So durften Frauen bis 1977 nicht gegen den Willen ihres Mannes einer Erwerbsarbeit nachgehen. Und erst seit 1997 ist Vergewaltigung in der Ehe eine Straftat. Seit 1994 heißt es nun auch im Grundgesetz: "Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin."
Manches soll "ewig" gelten
Das Beispiel zeigt auch, wie sich das Grundgesetz weiterentwickelt, es wurde bis heute mehr als 60-mal verändert. Ein anderes Beispiel ist der Asylartikel: "Politisch Verfolgte genießen Asyl", hieß es anfangs unzweideutig. Als Anfang der 1990er-Jahre die Zahl der Asylanträge stark anstieg, schränkte der Bundestag mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit das Asylrecht durch eine Grundgesetzänderung ein. Seitdem kann sich zum Beispiel derjenige nicht mehr darauf berufen, der über einen EU-Staat nach Deutschland einreist.
Es gibt aber einen Kern im Grundgesetz, der durch eine "Ewigkeitsklausel" gegen Veränderungen und Einschränkungen geschützt ist. Die Demokratie ("Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus") und die Rechtsstaatlichkeit ("Die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden") gehören ebenso dazu wie der Artikel 1 zur Menschenwürde. Auch der bundesstaatliche Aufbau ist tabu.
Das Grundgesetz wurde 1949 als Übergangslösung verabschiedet. Doch es sollte sich als die bisher langlebigste deutsche Verfassung erweisen. Viele Artikel wurden im Laufe der Zeit detaillierter und wortreicher.
Doch es sind die einfachen Sätze, die viele Menschen nach wie vor ansprechen, wie der von der unantastbaren Würde des Menschen. Zusammen mit dem Bundesverfassungsgericht, das die Verfassung schützt und manchmal "die Grundrechte gegen den Staat ausgelegt hat", so Ulrich Battis, genießt das Grundgesetz auch ganz besonderes Vertrauen bei den Deutschen. Es steht für die wohl wichtigste Lehre aus der deutschen Vergangenheit: Nicht der Bürger soll sich dem Staat unterordnen, sondern der Staat ist für den Menschen da.