Von Tabubrüchen und Vergangenheitsbewältigung
10. Mai 2019"Wie sind Sie, ein amerikanischer Jude, zu einem Botschafter der deutschen Literatur geworden?" Seit dem Start des DW-Projekts"100 gute Bücher", für das ich in 100 Videos deutsche Bücher, die ins Englische übersetzt wurden, erkläre, wurde mir diese Frage exakt null mal gestellt.
In Berlin, wo ich wohne, ist es niemandem in den Sinn gekommen, zu fragen. Zum einen kennen die meisten Deutschen, die ich in meinen zehn Jahren in Deutschland getroffen habe, Juden mehr als ein historisches Konzept denn als einen lebenden Menschen mit so einem verräterischen Namen wie meinem. Um fair zu sein, würden die meisten höchstwahrscheinlich aber auch keinen Widerspruch darin sehen.
Dennoch: Der Holocaust steht ganz oben auf unserer Themenliste. Als wir das Projekt nun in meinem Heimatland, den USA, beim Bay Area Book Festival in Berkeley, Kalifornien, vorstellten, erwartete ich also, dass eingangs genannte Frage aufkäme. Das tat sie. Aber nur in meinem Kopf.
Literarische Brücken zwischen Kalifornien und Deutschland
Ich stellte mir eine Art Verbindung vor, die ich zu jüdischen und anderen verfolgten Autoren auf unserer Liste haben könnte, die vor dem Holocaust nach Kalifornien flohen. Einige von ihnen starteten erfolgreiche Karrieren in Hollywood. Kalifornien war für Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Thomas Mann und Klaus Mann nur ein vorübergehendes Zuhause. Für Heinrich Mann, Vicki Baum und Lion Feuchtwanger wurde es die Endstation.
"Man lächelte darüber, daß jetzt das gezähmte Haustier, der Kleinbürger, androhte, zu seiner wölfischen Natur zurückzukehren", schrieb Lion Feuchtwanger in seinem Roman "Die Geschwister Oppermann" 1933, kurz nachdem Hitler die Macht übernommen hatte. Noch im selben Jahr verließ der Autor Deutschland. Feuchtwangers Roman ist ein Beispiel, mit dem meine Kollegin Sabine Kieselbach und ich die frühen Ahnungen deutsch-jüdischer Autoren illustrieren, die den Schrecken kommen sahen.
Heute ist die Situation anders, immer mehr Juden ziehen nach Deutschland. Und in Berkeley, berühmt für seine linken Intellektuellen - viele von ihnen jüdisch -, fragten uns die Festival-Besucher nach der Mittäterschaft unter dem Nazi-Regime, nicht um Schuld zuzuweisen, sondern um auf ihre eigenen Ängste hinzuweisen, untätig zuzusehen, während die Demokratie in den USA erodiert und die Polkappen schmelzen.
Vergangenheitsbewältigung als Exportprodukt
Der Crashkurs in deutscher Literatur, den Sabine und ich gegeben haben, trug mit oder ohne Bezug zur Gegenwart das Gewicht von zwei Weltkriegen, Völkermord und einer sozialistischen Diktatur.
Eine kurze Verschnaufpause verschafften uns der US-Talkshow-Moderator Jimmy Fallon und der deutsch-österreichische Schauspieler Christoph Waltz. Der Clip, den wir gezeigt haben, hat nichts mit Geschichte zu tun; Waltz testet Fallons Wissen über lange deutsche Wörter wie Sitzpinkler oder Bezirksschornsteinfegermeister. Aber das Video ist auch ein perfektes Sprungbrett zu einem weiteren langen deutschen Wort, das für das Verständnis der deutschen Literatur und der modernen Geschichte unerlässlich ist: Vergangenheitsbewältigung. Wenn Länder auf der ganzen Welt deutsche Autos importieren können, dann, denke ich, könnten sie sich als weiteres Importgut auch den kritischen Blick auf die eigene Geschichte gönnen.
Eine der neuesten Stimmen der deutschen Vergangenheitsbewältigung ist nicht einmal deutsch: Die in Kiew geborene jüdische Autorin Katja Petrowskaja sagte bei einer Diskussionsrunde in Berkeley: "Es gab 100.000 Tote in meiner Stadt, mitten in der Stadt. Es stand keine einzige Zeile darüber in meinem (sowjetischen) Lehrbuch. Entsprechend getroffen war ich, dass es in Deutschland jeder wusste." In ihrem Roman"Vielleicht Esther"(2014), eine unserer hundert deutschen Pflichtlektüren, geht es um Petrowskajas Versuch, die Geschichte ihrer eigenen Familie von Holocaust-Opfern und Überlebenden zusammenzufassen. Sie schrieb das Buch auf Deutsch, das sie als Erwachsene lernte, um zu versuchen, die Sprache aus ihrer eigenen Geschichte zu befreien.
Vergangenheitsbewältigung als komplexer Prozess
Die beiden in Deutschland geborenen Autoren, Nora Krug und Takis Würger, kritisierten in derselben Diskussionsrunde die Bemühungen ihres Landes, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Krug, die Schöpferin der fantastisch illustrierten Memoiren "Heimat. Ein deutsches Familienalbum" sagte, sie habe erst Jahre nach ihrem Umzug in die USA damit beginnen können, ihr Deutschtum vollständig anzugehen.
Krugs Buch beginnt mit einem Gespräch mit einer älteren Frau in New York. Auf die Frage, ob sie jemals in Deutschland gewesen sei, antwortet die Frau, sie habe ein deutsches Konzentrationslager überlebt, weil eine der Wachen sie sechzehnmal aus der Gaskammer gerettet und andere Häftlinge an ihrer Stelle geschickt habe. Krug, deren Mann Jude ist, schrieb das Buch, um die Mittäterschaft ihrer eigenen Familie im Nationalsozialismus zu untersuchen, aber, wie sie auf dem Festival betonte, nicht "als Versuch, meine Schuld zu überwinden oder zu verstehen, was es bedeutet, deutsch zu sein oder sich weniger schuldig zu fühlen".
Wie Petrowskajas Roman sucht Krugs Text nicht nach einfachen, endgültigen oder vollständigen Antworten, sondern montiert die Fragmente von Erinnerung und Geschichte, wie sie sie findet. Ihr Kollege Takis Würger stimmte mit Krug darin überein, dass Vergangenheitsbewältigung ein Prozess sei, dem allzu oft eine persönliche Komponente fehle.
Tabubrechende Literatur
"Du wirst nicht ermutigt, in deiner eigenen Familie zu ermitteln", sagte Würger, dessen Großväter in der Wehrmacht dienten. "Mein eigener Urgroßvater starb in einer Gaskammer, und ich fand es erst mit 28 Jahren heraus."
Würgers zweiter Roman "Stella", der in diesem Jahr auf Deutsch erschienen ist, basiert auf der wahren Geschichte von Stella Goldschlag, einer Jüdin, die hunderte, vielleicht tausende anderer Juden an die Nazis verraten hat. Deutsche Kritiker verrissen das Buch wegen seines unterhaltsamen Stils angesichts der historischen Tragödie.
Vielleicht ist dieses Tabu noch immer sinnvoll. Aber wenn mich das Projekt "100 gute Bücher" eines gelehrt hat, dann ist es, dass die letzten sechs Jahrzehnte der deutschen Literatur zeigen, dass Tabus dazu gemacht werden, gebrochen zu werden.
Beißende Satire: "Der Nazi & der Friseur"
Niemand hatte mit Humor und Grobheit über den Zweiten Weltkrieg geschrieben, bevor Nobelpreisträger Günter Grass 1959 "Die Blechtrommel" veröffentlichte. Der Holocaust-Überlebende Edgar Hilsenrath fand bis 1977, sechs Jahre nachdem sie auf Englisch erschienen war, keinen deutschen Verleger für seine beißende Satire "Der Nazi & der Friseur".
Auf dem Festival bat eine junge Frau um Buchempfehlungen, die ihr helfen sollten, die Erfahrungen ihrer Großmutter zu verstehen, die den Bombenangriff auf Dresden überlebt hatte. Vor einigen Jahrzehnten wäre es schwer gewesen, ihr viele Titel zu empfehlen. Denn Geschichten über das deutsche Leid im Zweiten Weltkrieg waren jahrzehntelang kein Thema. Eine Ausnahme: "Eine Frau in Berlin", der Bericht über Massenvergewaltigungen durch sowjetische Soldaten. Als das Buch 1959 erstmals auf Deutsch erschien, verschwand es schnell wieder aus dem Buchhandel und wurde erst 2003 wieder verlegt.
Nach dem Festival wurde ich zum Abendessen in eine echte Berkeley-Kommune eingeladen, die Art, von der ich dachte, sie gehöre auch schon der Vergangenheit an. Bei einem Abendessen mit Linsen und Quinoa stellte mir eine der 17 Gastgeber, eine Lehrerin namens Nina, Fragen zu meinem Vortrag. Ich erklärte diese Reihe gebrochener Tabus und wie Bernhard Schlinks 1995 erschienenes, später mit Kate Winslet verfilmtes Buch"Der Vorleser" ein weiteres brach, indem er eine ehemalige KZ-Wachfrau nicht als Monster, sondern als komplexen Menschen darstellte. "Das ist so wichtig", sagte Nina und fügte schnell hinzu, dass ihre eigene Mutter als Mädchen in Paris den Nazis entkommen sei. Sie sagte, es sei wichtig, über die permanenten Bezeichnungen von Opfer und Täter hinauszuschauen, denn die Rollen könnten zu leicht gewechselt werden. Vielleicht, dachte ich, geht es nicht nur darum, Jude oder Deutscher zu sein. Das Beste, was wir tun können, ist, das Ganze weiterhin gemeinsam zu auszutüfteln.